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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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vom Tropf zum Handrücken. Das Haar klebte ihm verschwitzt am Kopf. Mir war noch nie aufgefallen, wie dünn und schütter es war. War mein eitler Freund ein Meister des Föns? Oder schaute ich sonst nicht hin? Man hatte das Blut um seinen Mund nicht sauber weggewischt; es war braun angetrocknet und krümelte in den Mundwinkeln. Manchmal zuckten die Augenlider. Sonne und Jalousie zeichneten Streifen ins Zimmer. Langsam wanderten sie über den Linoleumboden, über die Bettdecke und die Wand hoch. Als die Schwester den Tropf wechselte, wachte Philipp auf.
    »Maria mit den schönen Ohren.« Dann erkannte er mich. »Merk dir das, Gerd, wie die Ohrläppchen, so die Brüste.«
    »Aber Herr Doktor«, spielte Maria mit.
    »Ich sollte besser nicht reden.« Philipp flüsterte angestrengt.
    Die Schwester war fertig, ging hinaus und schloß leise die Tür. Nach einer Weile winkte mich Philipp ans Kopfende. »Die Milz ist raus? Und die Pumpe an? Ich habe manchmal vom Sterben geträumt. Ich liege im Krankenhaus, in einem Zimmer und einem Bett wie hier und nehme von allen Frauen meines Lebens Abschied.«
    »Allen?« Auch ich flüsterte. »Stehen sie draußen Schlange, den Gang lang und die Treppe runter?«
    »Jede sagt mir, daß sie keinen mehr getroffen hat wie mich.«
    »Mhm.«
    »Und ich sag jeder, daß ich keine mehr getroffen habe wie sie.«
    »Du brauchst ein Krankenzimmer mit zwei Türen, eine von vorne und eine nach hinten. Die Frauen, mit denen du schon gesprochen hast, dürfen denen nicht begegnen, die noch warten. Stell dir vor, in der Schlange spricht sich rum: Philipp sagt jeder, er hat keine getroffen wie sie.«
    Philipp seufzte und schwieg eine Weile. »Du verstehst nichts von der Liebe, Gerd. In meinem Traum treffen sie sich danach sowieso. Sie gehen von meinem Sterbelager in die Blaue Ente. Da habe ich für sie ein Bankett arrangiert, und sie essen und trinken und gedenken meiner.«
    Ich weiß nicht, warum Philipps Traum mich traurig machte. Weil ich nichts von der Liebe verstehe? Ich nahm seine Hand. »Laß mal, das hat noch Zeit. Du stirbst nicht.«
    »Nein.« Ihm fiel das Reden immer schwerer. »Jetzt könnte ich auch gar nicht mit allen sprechen. Ich bin viel zu schwach.« Er schlief ein.
    Gegen fünf kam Füruzan. Daß ihr Bruder sie geschlagen hatte, sah ich, daß sie sich versöhnt hatten, berichtete sie flüsternd. »Ob Philipp mir auch verzeiht?«
    Ich verstand nicht.
    »Weil der Stich für mich war.«
    Ich verzichtete auf emanzipatorische Belehrungen. »Bestimmt verzeiht er dir.«
    Ich wartete nicht, bis Philipp wieder wach wurde. Um sechs war ich bei Nägelsbach, um sieben im Gefängnis am Faulen Pelz. Nägelsbach war wortkarg, und ich war’s auch. Immerhin klärte er mich auf, daß das Essen vorbei wäre, wenn ich käme, und ging mit mir einkaufen. Laugenbrezeln, Camembert, eine Flasche Barolo und Äpfel. Mir fiel der Mangold ein, den es in Mannheim auf dem Markt gegeben hatte. Besonders liebe ich dieses so unterschätzte heimische Gemüse gratiniert oder auch als Salat – man muß ihn nur warm mit der Marinade anmachen und einige Stunden gut durchziehen lassen.
    Ich war zuletzt als Staatsanwalt im Faulen Pelz gewesen. Nach mehr als vierzig Jahren erkannte ich die Topographie des Gefängnisses nicht wieder, wohl aber den Geruch und die hallenden Geräusche beim Gehen, beim Suchen des richtigen Schlüssels am klirrenden Bund und beim Auf- und Zuschließen. Als der Gefängnisbeamte die Tür zugemacht und abgeschlossen hatte und mit Nägelsbach fortging, hörte ich ihren Schritten nach. Dann aß ich Brezeln, Käse und Apfel, trank Barolo und las Gottfried Keller. Ich hatte die Zürcher Novellen gegriffen und ließ mich vom Landvogt vom Greifensee darüber belehren, wie es einen gelüsten kann, seine alten Liebschaften bei sich zu vereinigen. Ob auch Philipp das erbauliche und zierliche Ende einer lächerlichen Geschichte und den Frieden im Herzen suchte?
    Es ging mir gut, bis ich auf der Pritsche lag und schlafen wollte. Aus den dicken Mauern dünstete klamme Kälte. Zugleich wehte der Sommerwind immer wieder einen Schwall Wärme durch die Luken im Fenster. Er brachte das Lärmen von Kneipe zu Kneipe ziehender Zecher mit, Willkommens- und Abschiedsrufe, dröhnendes Lachen der Männer und perlendes der Frauen. Für kurze Momente war es ganz still, bis ich in der Ferne Schritte und Stimmen näher kommen, lauter werden und in der Ferne verklingen hörte. Manchmal erhaschte ich Gesprächsfetzen. Manchmal

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