Selbs Betrug
Vanillepudding gebracht. Sonst war ich allein geblieben und hatte mit Keres’ Hilfe Aljechin mattgesetzt. Bis der Beamte kam, mir sagte, ich könne gehen, und mich ans Tor geleitete. Schön, daß Gefängnisse es anders machen als Krankenhäuser, die ihre Patienten auch dann nicht am Wochenende entlassen, wenn sie gesund sind.
Ich stand mit meinem Köfferchen vor dem Gefängnistor und genoß den Geruch der Freiheit und die Wärme der Sonne. Auch als ich zum Neckar kam, mochte ich den Geruch nach totem Fisch, Motorenöl und alten Erinnerungen. An der Schleuse am Karlstor wurde ein Lastkahn hinabgelassen. Auf der Abdeckung über dem Laderaum war eine Decke ausgebreitet und ein Laufstall aufgestellt, in dem ein kleines Kind spielte.
»Nehmen Sie mich mit?«
Der Schiffer merkte, daß ich ihm zurief, aber verstand nicht. Ich zeigte auf mich, auf seinen Kahn und deutete mit wedelnden Händen neckarabwärts. Er zuckte lachend die Schultern, ich nahm’s als Zustimmung, hastete die Böschung hinunter und sprang vom Schleusenrand auf den Kahn, der rasch in der Tiefe der Schleusenkammer verschwand. Es war dunkler als oben, kälter, und durch einen Spalt im hinteren Schleusentor quoll drängend und drohend Wasser. Es war schön, als das vordere Schleusentor aufging und wir den Fluß vor uns hatten, die alte Brücke und die Silhouette der Altstadt.
»Das hätten Sie nicht tun dürfen.« Die Frau des Schiffers hatte das Kind auf dem Arm und sah mich zugleich tadelnd und neugierig an.
Ich nickte. »Wenn ich wenigstens Kuchen mitgebracht hätte! Aber als ich bei der Konditorei vorbeikam, wußte ich noch nichts von Ihnen. Wirft mich Ihr Mann über Bord?«
Natürlich tat er’s nicht, und seine Frau gab mir vom Sandkuchen, den sie gebacken hatte. Ich setzte mich, ließ die Beine über Bord baumeln, aß den Kuchen und sah die Stadt an mir vorüberziehen. Unter der Alten Brücke echote das Jauchzen des Kindes, dem seine Mutter den Bauch küßte, unter der Neuen kam mir die hölzerne Brücke in den Sinn, die hier nach dem Krieg über den Neckar geführt hatte, und der Anblick der Insel weckte wieder die Sehnsucht der Kindheit nach Geborgenheit und Abenteuer. Dann fuhren wir auf dem Kanal, und die Autobahnbrücke kam in Sicht. Vom Damm hätte ich die Stelle sehen können, an der Wendt gelegen hatte.
Ich hatte eine Geschichte aufgeklärt, die mich verwirrt, zu der ich aber eigentlich nicht ermittelt hatte. Ein paar junge Leute machen einen Anschlag, die Polizei will den Anschlag vertuschen, die Leute gleichwohl bestrafen und kommt auf die geniale Idee, den Anschlag von hier nach dort zu verschieben. Zu verlagern gewissermaßen, würde Bleckmeier richtig sagen. Dabei muß sie mit Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl vorgehen und darf die Fahndung nach den jungen Leuten nicht an die große Glocke hängen. Wegen eines Anschlags in Käfertal nach ihnen fahnden, sie bei oder nach der Verhaftung vor der laufenden Kamera und dem gezückten Bleistift des Reporters vom Anschlag in Viernheim reden hören – das paßt schlecht. Also fahndet die Polizei verdeckt, bis Wendts Tod, der irgendwie im Zusammenhang mit dem Anschlag steht und wer weiß was befürchten läßt, keinen weiteren Aufschub bei der Fahndung mehr zuläßt. Die Polizei geht an die Öffentlichkeit. Immerhin hat sie mit dem einen Täter, den sie beim Anschlag gefaßt hat, den Handel perfekt: Er gesteht den Anschlag in Käfertal und kriegt dafür eine mildere Strafe. Vielleicht wird er auch Kronzeuge. Die Polizei riskiert, daß die anderen was verpatzen oder nicht mitspielen. Denn Patzer lassen sich korrigieren. Und warum sollten sie nicht mitspielen?
Viel mehr, als daß Wendts Tod irgendwie im Zusammenhang mit dem Anschlag stand, wußte auch ich nicht. Der tote Wendt hatte eine Karte von Viernheim bei sich. Er starb an einer Kugel aus Lemkes Pistole. Er kannte Lemke von früher, wurde von Lemke mit Leo bekanntgemacht und half Leo nach dem Anschlag. Sollte er der fünfte Mann gewesen sein, den Lemke zum Anschlag mitgebracht hatte? Den Leo nicht erkannte? Der vor ihr zurück im Psychiatrischen Landeskrankenhaus war?
Bei der Schwabenheimer Schleuse ging ich von Bord. Ich spazierte am Neckar zum Schwabenheimer Hof und setzte mich beim Landgasthaus ›Zum Anker‹ in den Garten. Viele Familien waren zu Fuß oder mit dem Fahrrad von Ladenburg, Neckarhausen oder Heidelberg gekommen. Die Kaffee- und Kuchenzeit war vorbei, die Väter waren zu Bier übergegangen, und die Kinder
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