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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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erzählen. »Um die Zeit der Währungsreform begann man, belastete Kollegen wieder einzustellen. Da hätte ich wohl auch wieder zur Justiz gekonnt. Aber ich sah, was die Bemühung um die 149
    Wiedereinstellung und die Wiedereinstellung selbst aus den Kollegen machte. Anstelle von Schuld hatten sie nur noch das Gefühl, man habe ihnen mit der Entlas-sung Unrecht getan und die Wiedereinstellung sei eine Art Wiedergutmachung. Das widerte mich an.«
    »Das klingt mehr nach Ästhetik als nach Moral.«
    »Ich sehe den Unterschied immer weniger.«
    »Können Sie sich nichts Schönes vorstellen, das un-moralisch ist?«
    »Ich verstehe, was Sie meinen, Riefenstahl, ›Triumph des Willens‹ und so. Aber seit ich älter bin, finde ich die Choreographie der Masse, die Imponierarchitektur Speers und seiner Epigonen und den tausend Sonnen hellen Atomblitz einfach nicht mehr schön.«
    Wir standen vor der Haustür, und es ging auf sieben.
    Ich hätte Frau Buchendorff gerne in den ›Kleinen Rosengarten‹ eingeladen. Aber ich getraute mich nicht.
    »Frau Buchendorff, mögen Sie noch zum Essen mit mir in den ›Kleinen Rosengarten‹ kommen?«
    »Das ist nett, vielen Dank, aber ich möchte nicht.«
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    Eine Rabenmutter
    Ganz gegen meine Gewohnheit hatte ich den Ordner zum Essen mitgenommen.
    »Arbeitän und essän nix gut. Machän Magen kaputt.«
    Giovanni tat, als wolle er mir den Ordner wegnehmen.
    Ich hielt ihn fest. »Wir immer arbeiten, wir Deutsche.
    Nix dolltsche vita.«
    Ich bestellte Calamari mit Reis. Auf Spaghetti verzichtete ich, weil ich in Mischkeys Ordner keine Soßen-flecken machen wollte. Dafür spritzte mir der Barbera auf Mischkeys Brief an den ›Mannheimer Morgen‹, mit dem er ein Inserat aufgegeben hatte.

    »Historiker der Universität Hamburg sucht für sozial-und wirtschaftsgeschichtliche Studie mündliche Zeugnisse von Arbeitern und Angestellten der rcw aus der Zeit vor 1948 . Diskretion und Unkostenerstattung. Zuschriften unter Chiffre 379628 .«

    Ich fand elf Zuschriften, teils mit krakeliger Handschrift, teils mühsam getippt, die mit nicht viel mehr als Name, Adresse und Telefonnummer auf das Inserat reagierten. Eine Zuschrift kam aus San Francisco.
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    Ob etwas aus den Kontakten geworden war, war dem Ordner nicht zu entnehmen. Der Ordner enthielt überhaupt keine Aufzeichnungen Mischkeys, keinen Hinweis, warum er die Sammlung angelegt und was er mit ihr im Sinn gehabt hatte. Ich fand den von Frau Buchendorff kopierten Beitrag zur Festschrift, ferner die kleine Broschüre einer Basisgruppe Chemie, ›100 Jahre rcw – 100 Jahre sind genug‹, mit Aufsätzen über Ar-beitsunfälle, Streikniederschlagungen, Kriegsgewinne, Kapital- und Politikverflechtungen, Zwangsarbeit, Ge-werkschaftsverfolgung und Parteispenden. Sogar ein Aufsatz über rcw und die Kirchen war dabei, mit einem Bild von Reichsbischof Müller vor einem großen Erlenmeyerkolben. Mir fiel ein, daß ich während meiner Berliner Studienzeit ein Fräulein Erlenmeyer kennengelernt hatte. Sie war sehr reich, und Korten meinte, sie stamme aus der Familie des Vaters besagten Kolbens.
    Ich hatte es ihm geglaubt, die Ähnlichkeit war unüber-sehbar. Was wohl aus Reichsbischof Müller geworden war?
    Die Zeitungsartikel im Ordner datierten zurück bis 1947. Sie galten alle den rcw, schienen im übrigen aber wahllos zusammengestellt. Die Bilder, in der Kopie manchmal undeutlich, zeigten Korten zunächst als schlichten Direktor, dann als Generaldirektor, zeigten seine Vorgänger, Generaldirektor Weismüller, der bald nach 1945 in Ruhestand ging, und Generaldirektor Tyberg, den Korten 1967 abgelöst hatte. Vom hundertjährigen Jubiläum hatte der Photograph festgehalten, wie Korten die Gratulation Kohls entgegennahm und 152
    neben diesem klein, zart und vornehm wirkte. In den Artikeln war von Bilanzen, Karrieren und Produkten und wieder von Unfällen und Pannen die Rede.
    Giovanni räumte den Teller ab und stellte mir wort-los einen Sambuca hin. Ich bestellte einen Kaffee dazu.
    Am Nebentisch saß eine Frau von Vierzig und las die
    ›Brigitte‹. Auf dem Titelblatt erkannte ich, daß es um die Frage ›Sterilisiert – und was nun?‹ ging. Ich faßte mir ein Herz.
    »Ja, was denn nun?«
    »Wie bitte?« Sie sah mich irritiert an und bestellte einen Amaretto. Ich fragte sie, ob sie öfter hier sei.
    »Ja«, sagte sie, »nach der Arbeit gehe ich immer hier essen.«
    »Sind Sie sterilisiert?«
    »Stellen Sie sich vor, ich bin sterilisiert. Und

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