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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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mich an den Horch, auf dessen Vorderbank mich die Frau meines Lateinleh-rers in die Liebe eingeführt hatte. Zum Auto bekam ich einen Stadtplan mit eingezeichnetem 49 Mile Drive. Ich folgte ihm mühelos dank der überall angebrachten Mar-kierungen. Bei den Klippen fand ich ein Restaurant. Am Eingang mußte ich in einer Schlange vorrücken, bis ich zu einem Platz am Fenster geführt wurde.
    Über dem Pazifik hob sich der Nebel. Das Schauspiel fesselte mich, als könnte hinter dem zerreißenden Nebel augenblicklich Japans Küste sichtbar werden. Ich aß ein Thunfischsteak, Kartoffel in Aluminiumfolie und Eis-bergsalat. Das Bier hieß Anchor Steam und schmeckte fast wie das Rauchbier im Bamberger Schlenkerla. Die Bedienung war aufmerksam, füllte immer wieder un-aufgefordert meine Kaffeetasse auf und erkundigte sich nach meinem Befinden und wo ich herkomme. Auch sie kannte Deutschland; sie hatte einmal ihren Freund in Baumholder besucht.
    Nach dem Essen vertrat ich mir die Beine, kletterte in den Klippen herum und sah plötzlich, schöner, als ich sie aus Filmen in Erinnerung hatte, die Golden Gate Bridge vor mir. Ich zog meinen Mantel aus, faltete ihn zusammen, legte ihn auf einen Stein und setzte mich drauf. Die Küste fiel steil ab, unter mir kreuzten bunte Segelboote, und ein Frachter zog seine ruhige Bahn.
    Ich hatte geplant, in Frieden mit meiner Vergangenheit zu leben. Schuld, Sühne, Enthusiasmus und Blind-heit, Stolz und Zorn, Moral und Resignation – das alles 262
    hatte ich in ein kunstvolles Gleichgewicht gebracht. Die Vergangenheit war darüber zur Abstraktion geraten.
    Nun hatte die Realität mich eingeholt und gefährdete das Gleichgewicht. Natürlich hatte ich mich als Staatsanwalt mißbrauchen lassen, das hatte ich nach dem Zu-sammenbruch gelernt. Man mag sich fragen, ob es bes-seren und schlechteren Mißbrauch gibt. Dennoch war es für mich auf Anhieb nicht das gleiche, ob ich im Dienst einer vermeintlich großen, schlechten Sache schuldig geworden war oder ob man mich als dummen Bauern, meinethalben auch Offizier, benutzt hatte auf dem Schachbrett einer kleinen, schäbigen Intrige, die ich noch nicht verstand.
    Worauf genau lief das hinaus, was Frau Hirsch mir erzählt hatte? Tyberg und Dohmke, gegen die ich damals ermittelt hatte, waren nur aufgrund der Falschaus-sage Weinsteins überführt worden. Nach jedem, selbst nach nationalsozialistischem Maßstab war das Urteil ein Fehlurteil, und meine Ermittlungen waren Fehlermitt-lungen. Ich war einem Komplott aufgesessen, dem Tyberg und Dohmke zum Opfer fallen mußten. Meine Erinnerungen wurden deutlicher. In Tybergs Schreibtisch waren versteckte Unterlagen gefunden worden, die ein erfolgversprechendes, kriegswichtiges Vorhaben do-kumentierten, das von Tyberg und seiner Forschungsgruppe zunächst vorangetrieben, dann aber augenscheinlich abgebrochen worden war. Die Angeklagten hatten vor mir und vor Gericht stets betont, sie hätten zwei aussichtsreiche Forschungswege nicht gleichzeitig verfolgen können. Sie hätten den einen nur zurückge-263
    stellt, um ihn später wiederaufzugreifen. Das Ganze ha-be unter strenger Geheimhaltung gestanden, und ihre Entdeckung sei auch so aufregend gewesen, daß sie mit der Eifersucht des Wissenschaftlers darüber gewacht hätten. Nur deswegen das Versteck im Schreibtisch.

Damit wären sie vielleicht durchgekommen, aber Weinstein bekundete ein Gespräch zwischen Dohmke und Tyberg, in dem beide einig waren, die Entdeckung zu unterdrücken, um ein rasches Ende des Krieges auch um den Preis der deutschen Niederlage herbeizuführen.
    Und nun hatte es ein solches Gespräch gar nicht gegeben.
    Die Sabotagegeschichte hatte damals große Empö-
    rung hervorgerufen. Der zweite Anklagepunkt der Rassenschande hatte mich schon damals nicht überzeugt; meine Ermittlungen hatten keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß Tyberg mit einer jüdischen Zwangs-arbeiterin verkehrt habe. Man hatte ihn auch deswegen zum Tode verurteilt. Ich überlegte, wer von der ss und wer von der Wirtschaft damals das Komplott eingefä-
    delt haben konnte.
    Auf der Golden Gate Bridge floß stetig der Verkehr.
    Wo wollten die Leute alle hin? Ich fuhr zur Auffahrt, parkte mein Auto unter dem Denkmal des Erbauers und lief bis in die Mitte der Brücke. Ich war der einzige Fußgänger. Ich sah hinunter auf den metallisch schim-mernden Pazifik. Hinter mir rauschten die Straßenkreuzer in gefühlloser Gleichmäßigkeit. Ein kalter Wind pfiff durch die

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