Selbs Justiz
gezeigt, daß einige Sergej mochten, andere nicht, und daß der Ballettmeister zu letzteren gehörte.
Zwei Wochen plagte mich mein Rheuma so, daß ich über die Anstrengungen des täglichen Bedarfs hinaus zu nichts in der Lage war. Sonst ging ich viel spazieren, oft in die Sauna und ins Kino, las den ›Grünen Heinrich‹
zu Ende, der im Sommer liegengeblieben war, und hör-te Turbos Winterfell wachsen. Eines Samstags traf ich auf dem Markt Judith. Sie arbeitete nicht mehr bei den rcw, lebte von ihrem Arbeitslosengeld und half bei der 251
Frauenbuchhandlung ›Xanthippe‹ aus. Wir versprachen, uns zu treffen, aber weder sie noch ich machten den ersten Schritt. Mit Eberhard spielte ich die Partien der Weltmeisterschaft zwischen Karpow und Kasparow nach. Als wir über der letzten Partie saßen, rief Brigitte aus Rio an. Es summte und rauschte in der Leitung, ich verstand sie kaum. Ich glaube, sie sagte, daß sie mich vermisse. Ich konnte damit nichts anfangen.
Der Dezember begann mit unerwarteten Föhntagen.
Am 2. Dezember verkündete das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eingeführten direkten Emissionsdatenerfassung.
Es rügte die Verletzung der betrieblichen informa-tionellen Selbstbestimmung und des Rechts am einge-richteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, ließ die Regelung aber letztlich an Kompetenzfragen scheitern.
Der bekannte Leitartikler der ›Frankfurter Allgemei-nen Zeitung‹ feierte die Entscheidung als Meilenstein der Rechtsprechung, weil der Datenschutz endlich die Fesseln des bloßen Bürgerschutzes gesprengt und die Dimension des Unternehmensschutzes erobert habe.
Erst jetzt offenbare das Urteil zur Volkszählung seine reife Größe.
Ich wunderte mich, was aus Gremlichs lukrativer Nebentätigkeit werden würde. Würden die rcw ihn gewissermaßen als Schläfer weiter honorieren? Ich fragte mich auch, ob Judith die Meldung aus Karlsruhe lesen und was ihr dabei durch den Kopf gehen würde.
Diese Entscheidung ein halbes Jahr früher, und es hätte 252
keinen Clinch zwischen Mischkey und den rcw gegeben.
Am selben Tag fand ich in der Post einen Brief aus San Francisco. Vera Müller war alte Mannheimerin, 1936 in die usa emigriert und hatte an verschiedenen ka-lifornischen Colleges europäische Literatur gelehrt. Seit einigen Jahren lebte sie im Ruhestand und las aus Nostalgie den ›Mannheimer Morgen‹. Sie hatte sich schon gewundert, auf ihr erstes Schreiben an Mischkey nichts gehört zu haben. Auf das Inserat hatte sie reagiert, weil das Schicksal ihrer jüdischen Freundin im Dritten Reich auf traurige Weise mit den rcw verflochten war. Sie meinte, es handle sich um einen Abschnitt der jüngsten Geschichte, über den mehr geforscht und veröffentlicht werden solle, und war bereit, den Kontakt mit Frau Hirsch herzustellen. Aber sie wollte ihrer Freundin keine unnötige Aufregung zumuten und den Kontakt nur herstellen, wenn das Forschungsprojekt sowohl wissenschaftlich solide als auch unter dem Aspekt der Bewältigung der Vergangenheit fruchtbar war. Sie bat um entsprechende Erläuterungen. Es war der Brief einer gebil-deten Dame, in schönem, altertümlich anmutendem Deutsch gehalten und in steiler, strenger Schrift geschrieben. Ich sehe in Heidelberg im Sommer manchmal ältere amerikanische Touristinnen mit blauem Ton im weißen Haar, rosarotem Brillenrahmen und grellem Make-up auf der faltigen Haut. Mich hat dieser Mut, sich als Karikatur zu präsentieren, als Ausdruck kultureller Verzweiflung stets befremdet. Bei der Lektüre von Vera Müllers Brief konnte ich mir eine solche ältere 253
Dame auf einmal interessant und faszinierend vorstellen und in ihrer kulturellen Verzweiflung die weise Müdigkeit ganz vergessener Völker entdecken. Ich schrieb ihr, daß ich versuchen wolle, sie demnächst aufzusuchen.
Ich rief bei den Vereinigten Heidelberger Versicherungen an. Ich machte deutlich, daß ich ohne Amerika-reise nur noch den Abschlußbericht schreiben und die Rechnung stellen könne. Eine Stunde später rief mich der Sachbearbeiter an und sagte, ich solle fahren.
Also war ich wieder beim Fall Mischkey. Ich wußte nicht, was ich noch rausfinden konnte. Aber da war diese Spur, die sich damals verloren hatte und jetzt wieder auftat. Und mit dem grünen Licht der Vereinigten Heidelberger Versicherungen konnte ich ihr so mühelos nachgehen, daß ich mir keine großen Gedanken machen mußte, warum und zu welchem Ende.
Es
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