Selbs Justiz
uns in der Kantine zusammensetzen und reden.«
Die Kantine war leer. Durch das Fenster sah ich einen Park mit großen kahlen Bäumen. Mütter waren mit ihren Kindern unterwegs, Eskimos in wattierten Overalls, die im Schnee tollten.
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»Also mir ist es wirklich wichtig einzubringen, was ich über Sergej weiß. Ich fänd es ganz furchtbar, wenn man da auf falsche … wenn man da dächte … Sergej, er ist so unheimlich sensibel. Er ist auch so verletzlich, nicht so ein Macho. Wissen Sie, schon deswegen kann er das nicht selbst gewesen sein, er hatte immer wahnsinnige Angst vor Verletzungen.«
Joschka war sich nicht so sicher. Nachdenklich rührte er mit einem Plastikstöckchen in seiner Styroporkaffee-tasse. »Herr Selb, auch ich glaube nicht, daß Sergej sich selbst verstümmelt hat. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß irgend jemand so was macht. Aber wenn jemand … Wissen Sie, verrückte Ideen hat der Sergej schon immer gehabt.«
»Wie kannst du so was Gemeines sagen«, unterbrach ihn Hanne. »Ich dachte, du bist sein Freund. Nee, also, das macht mich ganz schön traurig, echt.«
Joschka legte seine Hand auf ihren Arm. »Aber Hanne, erinnerst du dich nicht an den Abend, an dem wir das Ensemble aus Ghana bewirtet haben? Da hat er er-zählt, wie er sich als Pfadfinder beim Kartoffelschälen extra in die Hand geschnitten hat, um keinen Küchen-dienst mehr machen zu müssen. Wir haben damals alle darüber gelacht, du auch.«
»Aber das hast du völlig schief mitgekriegt. Er hat doch nur so getan, als hätte er sich geschnitten, und sich einen dicken Verband gemacht. Also, wenn du so die Wahrheit verdrehst … Also Joschka, also wirklich …«
Joschka wirkte nicht überzeugt, wollte aber nicht mit 272
Hanne streiten. Ich fragte nach Sergejs Verfassung und Gemütslage in den letzten Monaten der abgelaufenen Spielzeit.
»Genau«, sagte Hanne, »das paßt auch nicht zu Ihrem komischen Verdacht. Er hat so an sich geglaubt, er wollte noch unbedingt Flamenco dazunehmen und hat sich um ein Stipendium nach Madrid bemüht.«
»Aber Hanne, das Stipendium hat er doch grade
nicht gekriegt.«
»Aber verstehst du denn nicht, daß er sich beworben hat, da war irgendwie soviel Power drin. Und mit seiner Beziehung, das hat auch endlich richtig gestimmt im Sommer, mit seinem Germanistikprofessor. Wissen Sie, Sergej, nein, schwul war er nicht, aber er kann auch Männer liebhaben. Ich finde das ganz toll an ihm. Und auch nicht nur so was Kurzes, Sexuelles, sondern echt tief. Man muß ihn einfach mögen. Er ist so …«
»Sanft?« schlug ich vor.
»Genau, sanft. Kennen Sie ihn eigentlich, Herr Selb?«
»Ach, sagen Sie mir noch, wer ist der Germanistikprofessor, den Sie erwähnt haben?«
»War das wirklich Germanistik, ist das nicht Jura?«
Joschka runzelte die Stirn.
»Ach Quatsch, du läßt kein gutes Haar an Sergej. Es war ein Germanist, ein ganz kuschliger. Aber der Name
… Ich weiß nicht, ob ich Ihnen den sagen soll.«
»Hanne, die beiden haben doch kein Geheimnis
draus gemacht, so wie sie miteinander in der Stadt rum-gezogen sind. Es ist Fritz Kirchenberg aus Heidelberg.
Ist vielleicht ganz gut, wenn Sie mal mit ihm reden.«
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Ich fragte die beiden nach ihrer Meinung über Sergejs tänzerische Qualitäten. Hanne antwortete zuerst.
»Aber darum geht’s doch überhaupt nicht. Auch
wenn man kein guter Tänzer ist, muß man sich doch nicht das Bein abhauen. Ich weigere mich, darüber überhaupt zu reden. Und ich bleibe dabei, daß Sie un-recht haben.«
»Ich hab noch gar keine feste Meinung, Frau Fischer.
Und ich möchte auch darauf hinweisen, daß Herr Mencke das Bein nicht verloren, sondern nur gebrochen hat.«
»Ich weiß nicht, wieviel Sie vom Ballett verstehen, Herr Selb«, sagte Joschka. »Letztlich ist es bei uns wie überall. Es gibt die Stars und die, die es einmal werden, es gibt den guten Durchschnitt derer, die sich die Blütenträume abgeschminkt haben, aber nie Existenz-angst haben müssen. Und dann gibt’s noch die, die in ständiger Angst um das nächste Engagement leben müssen, bei denen es mit Sicherheit aus ist, wenn sie erst einmal älter werden. Sergej gehörte zur dritten Gruppe.«
Hanne widersprach nicht. Sie gab durch ihr trotziges Gesicht zu verstehen, daß sie das Gespräch für völlig neben der Sache hielt. »Ich dachte, Sie wollten etwas über Sergej, den Menschen, herausfinden. Daß die Männer auch nichts anderes kennen als die Karriere.«
»Wie hat sich Herr
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