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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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war nachmittags 15 Uhr, und ich stellte anhand meines Taschenkalenders fest, daß es in Pittsburgh 9
    Uhr war. Ich hatte beim Ballettmeister erfahren, daß Sergej Menckes Freunde beim Pittsburgh State Ballet arbeiteten, und die Fernsprechauskunft Ausland gab mir dessen Telephonnummer.
    Das Mädchen von der Post war munter. »Sie wollen die Kleine von ›Flashdance‹ anrufen?« Ich kannte den Film nicht. »Ist der Film was? Sollte ich ihn mir noch anschauen?« Sie war dreimal drin gewesen. Das Fernge-spräch nach Pittsburgh war mit meinem schlechten Englisch eine Qual. Immerhin brachte ich bei der Sekretärin des Balletts in Erfahrung, daß die beiden Tänzer den Dezember über in Pittsburgh sein würden.
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    Mit meinem Reisebüro verständigte ich mich dahin, daß ich die Rechnung für einen Lufthansaflug Frankfurt-Pittsburgh bekam, daß mir aber ein Billigflug von Brüssel nach San Francisco mit Zwischenlandung in New York und Abstecher nach Pittsburgh gebucht wurde. Anfang Dezember war nicht viel los über dem Atlantik. Ich bekam einen Flug für Donnerstag morgen.
    Gegen Abend rief ich Vera Müller in San Francisco an. Ich sagte ihr, daß ich ihr geschrieben hätte, daß sich aber ganz plötzlich die günstige Gelegenheit eines Aufenthalts in den usa ergeben hätte und daß ich am Wochenende in San Francisco sei. Sie sagte, sie würde mich bei Frau Hirsch anmelden, sei selbst am Wochenende weg und würde sich freuen, mich am Montag zu sehen.
    Ich notierte die Adresse von Frau Hirsch: 410 Connec-ticut Street, Potrero Hill.
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    Mit einem Knacken war das Bild da
    Aus alten Filmen hatte ich Bilder im Kopf, wie Schiffe nach New York einlaufen, an der Freiheitsstatue vorbei und an den Wolkenkratzern entlang, und ich hatte mir vorgestellt, dasselbe statt vom Deck eines Dampfers durch das kleine Fenster zu meiner Linken sehen zu können. Aber der Flugplatz liegt weit vor der Stadt, war kalt und schmutzig, und ich war froh, als ich umge-stiegen war und im Flugzeug nach San Francisco saß.
    Die Sitzreihen standen so eng, daß es in ihnen nur bei geneigter Rückenlehne auszuhalten war. Während des Essens mußte die Lehne geradegestellt werden, und vermutlich servierte die Fluggesellschaft das Essen auch nur, damit man anschließend froh war, sich wieder zu-rücklehnen zu können.
    Ich kam um Mitternacht an. Ein Taxi brachte mich über eine achtspurige Autobahn in die Stadt und in ein Hotel. Mir war elend vom Sturm, durch den das Flugzeug geflogen war. Der Hoteldiener, der mir den Koffer ins Zimmer trug, schaltete den Fernsehapparat ein, mit einem Knacken war das Bild da. Ein Mann redete mit obszöner Aufdringlichkeit. Später merkte ich, daß es ein Prediger war.
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    Am nächsten Morgen rief mir der Portier ein Taxi, und ich trat auf die Straße. Das Fenster meines Zimmers ging auf die Wand eines Nachbarhauses, und der Morgen im Zimmer war grau und leise gewesen. Jetzt explo-dierten die Farben und Geräusche der Stadt um mich herum unter einem klaren blauen Himmel. Die Fahrt über die Hügel der Stadt, auf Straßen, die schnurgerade hochführen und runterstoßen, das schmatzende Stoßen der ausgeleierten Federn des Taxis, wenn wir dabei eine Querstraße überfuhren, die Ausblicke auf Hochhäuser, Brücken und eine große Bucht machten mich wie betrunken. Das Haus lag in einer ruhigen Straße. Es war wie alle Häuser drum herum aus Holz. Zum Eingang führte eine Treppe. Ich ging hoch und klingelte. Mir öffnete ein Greis. »Mister Hirsch?«
    »Mein Mann ist seit sechs Jahren tot. Du mußt nicht entschuldigen, ich werde oft für einen Mann genommen und bin daran gewöhnt. Du bist doch der Deutsche, von dem mir Vera erzählt hat, nicht wahr?«
    Vielleicht war es die Verwirrung oder der Flug oder die Fahrt mit dem Taxi – ich muß ohnmächtig geworden sein und kam zu mir, als die alte Frau mir ein Glas Wasser ins Gesicht schüttete.
    »Du warst glücklich, daß du nicht die Treppe runter-gefallen bist. Wenn du kannst, komm in mein Haus, und ich gebe dir einen Whisky.«
    Er brannte in mir. Das Zimmer war muffig und roch nach Alter, nach altem Körper und nach altem Essen.
    Bei meinen Großeltern hatte derselbe Geruch gestanden, fiel mir plötzlich ein, und ebenso plötzlich packte 257
    mich die Angst vor dem Altwerden, die ich immer wieder verdränge.
    Die Frau saß mir gegenüber und musterte mich. Das Sonnenlicht fiel durch die Jalousien in Streifen auf sie.
    Sie war ganz kahl. »Du willst mit mir über Karl

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