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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Weinstein reden, meinen Mann. Vera meinte, es sei wichtig, daß erzählt wird, was damals gewesen ist. Aber es ist keine gute Geschichte. Mein Mann hat versucht, sie zu vergessen.«
    Ich merkte nicht gleich, wer Karl Weinstein war.
    Aber als sie zu erzählen begann, erinnerte ich mich. Sie wußte nicht, daß sie nicht nur seine Geschichte erzähl-te, sondern auch meine Vergangenheit berührte.
    Sie redete mit seltsam eintöniger Stimme. Weinstein war bis 1933 Professor für organische Chemie in Breslau gewesen. 1941, als er ins kz kam, forderte sein ehemaliger Assistent Tyberg ihn für die Labors der rcw an und bekam ihn zugeteilt. Weinstein war sogar ganz zufrieden, daß er wieder auf seinem Gebiet arbeiten konnte und daß er mit jemandem zu tun hatte, der ihn als Wissenschaftler schätzte, mit ›Herr Professor‹ anredete und am Abend höflich verabschiedete, ehe er mit den anderen Zwangsarbeitern im Werk ins Barackenlager verbracht wurde. »Mein Mann war nicht sehr lebens-tüchtig und auch nicht sehr tapfer. Er hatte keine Idee oder wollte keine haben, was um ihn passierte und ihm selbst bevorstand.«
    »Haben Sie die Zeit damals bei den rcw miterlebt?«
    »Ich habe Karl auf dem Transport nach Auschwitz getroffen, 1941. Und dann erst wieder nach dem Krieg.
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    Ich bin Flämin, du weißt, und konnte mich zuerst in Brüssel verbergen, bis sie mich gefaßt haben. Ich war eine schöne Frau. Man hat medizinische Versuche mit meiner Kopfhaut gemacht. Ich denke, es hat mein Leben gerettet. Aber 1945 war ich alt und kahl. Ich war dreiundzwanzig.«
    Eines Tages waren sie zu Weinstein gekommen, einer vom Werk und einer von der ss. Sie hatten ihm gesagt, was er vor Polizei, Staatsanwalt und Richter aussagen müsse. Es ging um Sabotage, ein Manuskript, das er in Tybergs Schreibtisch gefunden, ein Gespräch zwischen Tyberg und einem Mitarbeiter, das er belauscht haben sollte.
    Ich sah wieder vor mir, wie Karl Weinstein damals in mein Dienstzimmer geführt wurde, in seiner Häftlings-kleidung, und seine Aussage machte.
    »Er hat zunächst nicht wollen. Es war alles falsch, und Tyberg war nicht schlecht zu ihm gewesen. Aber sie zeigten ihm, daß sie ihn zertreten würden. Sie haben ihm dafür nicht einmal das Leben versprochen, sondern nur, daß er noch ein bißchen überleben kann.
    Kannst du dir das vorstellen? Dann wurde mein Mann verlegt und im anderen Lager einfach vergessen. Wir hatten ausgemacht, wo wir uns treffen, im Fall einmal alles vorbei ist. In Brüssel, auf derGrand’Place. Ich bin dann nur bei Zufall dort gekommen, im Frühjahr 1946, hatte gar nicht mehr gedacht von ihm. Er hatte seit dem Sommer 1945 dort für mich gewartet. Er hat mich sofort erkannt, obwohl ich die kahle, alte Frau geworden war. Wer kann so etwas widerstehen?« Sie lachte.
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    Ich brachte es nicht fertig, ihr zu sagen, daß Weinstein seine Aussage vor mir gemacht hatte. Ich konnte ihr auch nicht sagen, warum es für mich so wichtig war.
    Aber ich mußte es wissen. Und so fragte ich: »Sind Sie sicher, daß Ihr Mann damals eine falsche Aussage gemacht hat?«
    »Ich verstehe nicht, ich habe Ihnen berichtet, was er mir erzählt hat.« Sie wurde abweisend. »Gehen Sie«, sagte sie, »gehen Sie.«
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    3
    Do not disturb
    Ich ging den Hügel hinunter und gelangte in die Docks und Lagerhallen an der Bay. Weit und breit sah ich weder Taxi noch Bus, noch U-Bahnstation. Ich wußte nicht einmal, ob es in San Francisco eine U-Bahn gab.
    Ich schlug die Richtung ein, in der ich die Hochhäuser sah. Die Straße hatte keinen Namen, nur eine Nummer.
    Vor mir her fuhr langsam ein schwerer schwarzer Ca-dillac. Alle paar Schritte hielt er an, ein Schwarzer in pinkfarbenem Seidenanzug stieg aus, trat eine Bier-oder Coladose platt und ließ sie in einem großen blauen Plastiksack verschwinden. Einige hundert Meter voraus sah ich ein Geschäft. Als ich näher kam, erkannte ich, daß es festungsartig vergittert war. Ich ging hinein auf der Suche nach einem Sandwich und einem Päckchen Sweet Afton. Die Waren lagen hinter Gittern, die Kasse erinnerte mich an einen Bankschalter. Ich bekam kein Sandwich, und niemand wußte, was Sweet Afton war, und ich fühlte mich schuldig, obwohl ich nichts getan hatte. Als ich das Geschäft mit einer Stange Chesterfield verließ, fuhr mitten auf der Straße ein Güterzug an mir vorbei.
    An den Piers fand ich eine Autovermietung und mie-261
    tete einen Chevrolet. Die durchgehende Vorderbank hatte es mir angetan. Sie erinnerte

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