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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Es blieb nicht mehr viel zu tun im Fall Sergej Mencke. Die Doktorarbeit von Philipps Famula wollte ich mir noch anschauen, und für den Schluß hatte ich aufgespart, Sergej im Krankenhaus zu besuchen. Ich war sie alle leid, die Oberlehrer, Hauptleute, schwulen Germanistikprofes-soren, das ganze Ballett und auch Sergej, noch ehe ich ihn gesehen hatte. War ich berufsmüde? Schon im Fall Mischkey war ich hinter meinen professionellen Standards zurückgeblieben, und wie mir der Fall Mencke verleidet war, das wäre früher nicht passiert. Sollte ich aufhören? Wollte ich eigentlich älter werden als acht-296
    zig? Ich konnte meine Lebensversicherung auszahlen lassen, die mich zwölf Jahre lang ernähren würde. Ich beschloß, im neuen Jahr mit meinem Steuerberater und Versicherungsagenten zu reden.
    Ich fuhr nach Westen in die untergehende Sonne.
    Soweit ich blicken konnte, glänzte rosig der Schnee.
    Der Himmel war von blasser, porzellanener Bläue. Aus den Schornsteinen der fränkischen Dörfer und Städt-chen, an denen ich vorbeifuhr, stieg der Rauch hoch.
    Das heimelige Licht in den Fenstern weckte alte Sehnsüchte nach Geborgenheit. Heimweh nach Nirgendwo.
    Philipp war noch im Dienst, als ich um sieben auf der Station nach ihm fragte. »Willy ist tot«, begrüßte er mich bedrückt. »Dieser Dummkopf. Heute noch an einem perforierten Blinddarm zu sterben ist einfach lä-
    cherlich. Ich verstehe nicht, warum er mich nicht angerufen hat; er muß furchtbare Schmerzen gehabt haben.«
    »Weißt du, Philipp, ich hatte im letzten Jahr nach Hildes Tod öfter den Eindruck, daß er eigentlich nicht mehr will.«
    »Diese blöden Ehemänner und Witwer. Wenn er nur ein Wort gesagt hätte, ich kenne Frauen, die lassen einen jede Hilde vergessen. Was ist übrigens aus deiner Brigitte geworden?«
    »Die treibt sich in Rio rum. Wann ist die Beerdigung?«
    »Heute in einer Woche. Vierzehn Uhr auf dem
    Hauptfriedhof in Ludwigshafen. Ich hab mich um alles kümmern müssen. Ist ja sonst niemand mehr da. Bist du einverstanden mit einem Grabdenkmal aus rotem Sand-297
    stein, mit einem Käuzchen drauf? Wir legen zusammen, du, Eberhard und ich, damit er ordentlich unter die Er-de kommt.«
    »Hast du dir schon über die Anzeigen Gedanken
    gemacht? Und wir müssen den Dekan seiner ehemaligen Fakultät verständigen. Kann deine Sekretärin das machen?«
    »Geht in Ordnung. Ich würde gerne mitkommen, du gehst doch jetzt sicher essen. Aber ich kann nicht weg, vergiß die Doktorarbeit nicht.«
    Da waren’s nur noch drei. Ich ging nach Hause und machte mir eine Dose Sardinen auf. Ich wollte es dieses Jahr mit leeren Ölsardinendosen probieren an meinem Weihnachtsbaum und mußte mit dem Sammeln beginnen. Es war fast schon zu spät, um bis Weihnachten genug zusammenzubringen. Sollte ich Philipp und Eberhard am nächsten Freitag abend zum Leichenschmaus mit Ölsardinen einladen?
    ›Frakturen durch Türen‹ war fünfzig Seiten stark. Die Systematik der Arbeit ergab sich aus einer Kombination von Türen und Brüchen. Die Einleitung enthielt ein Kreuzdiagramm, das in der Waagerechten die verschiedenen bruchverursachenden Türen und in der Senk-rechten die türverursachten Frakturen verzeichnete. In den meisten der 196 Felder zeigten Zahlen an, daß und wie oft die entsprechende Konstellation in den letzten zwanzig Jahren in den Mannheimer Krankenanstalten aufgetreten war.
    Ich suchte die Spalte ›Autotür‹ und die Zeile ›Tibia-fraktur‹ auf. Im Schnittpunkt fand ich die Zahl zwei, 298
    hinten im Text die zugehörigen Anamnesen. Obwohl sie anonymisiert waren, erkannte ich in einer die von Sergej wieder. Die andere stammte aus dem Jahr 1972. Ein aufgeregter Kavalier hatte seiner Dame beim Einsteigen ins Auto geholfen und vorschnell die Tür zugeschlagen. Die Arbeit konnte nur einen Fall von Selbstverstümmelung erwähnen. Ein gescheiterter Goldschmied hatte sich mit dem versicherten und gebrochenen Daumen der rechten Hand eine goldene Nase verdienen wollen. Er hatte im Heizungskeller die rechte Hand in den Rahmen der ei-sernen Tür gelegt und diese mit der linken zugeschlagen.
    Aufgeflogen war die Sache nur, weil er, nachdem die Versicherung schon gezahlt, mit seinem Coup geprahlt hatte. Vor der Polizei gab er an, daß er sich als Kind die lockeren Milchzähne mit einem an der Türklinke einerseits, andererseits am Zahn befestigten Zwirnsfaden he-rausgerissen habe. Das habe ihn auf die Idee gebracht.
    Die Entscheidung, Frau Mencke anzurufen und

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