Selbs Mord
schwer es mit ihm war, wenn er sich was in den Kopf gesetzt hatte. Beinahe hätte ich Ihnen Vorwürfe gemacht. Das wollte ich nicht.« Jetzt sah sie mich nur traurig an, aber ich machte mir selbst die Vorwürfe, die sie mir nicht machte. Ja, warum hatte ich ihn nicht festgehalten? Warum hatte ich es nicht einmal versucht? Diesmal war ich nicht nur mit meinen Emotionen zu langsam gewesen.
»Ich …« Aber ich wußte nichts zu sagen. Ich sah sie an, ihre gebeugte Haltung, ihre ergeben um das Taschentuch gefalteten Hände, ihr warmherziges, gutgläubiges Gesicht. Sie hatte mich nicht gefragt, wer ich sei, sondern einfach als Freund ihres Onkels und Gefährten ihrer Trauer genommen. Ich fühlte mich, als hätte ich nicht nur vor Schuler, sondern auch vor ihr versagt, und suchte in ihrem Gesicht Absolution. Aber ich fand sie nicht. Ohne Beichte gibt es keine Absolution.
16
Kein Niveau
Als Brigitte und ich zum Abschiedsfest in den Pfaffengrund kamen, war Nägelsbach schon von betrunkener, verzweifelter Fröhlichkeit. »Na, Herr Selb? Zuerst wollten die Kollegen Ihren Freund nicht in die Gerichtsmedizin schaffen. Aber ich habe mit ihnen geredet, und dann haben sie’s doch getan. Apropos schaffen – das müssen Sie jetzt alleine, ich kann Ihnen nicht mehr helfen.«
Seine Frau nahm Brigitte und mich beiseite. »Sein Chef hat gefragt, womit er ihm eine Freude machen kann. Ich fürchte, er kommt als Überraschungsgast. Würden Sie sich dann um ihn kümmern? Ich möchte nicht, daß er unvermittelt meinem Mann in die Hände fällt.« Sie hatte ein langes, schwarzes Kleid an, ich wußte nicht, ob aus Trauer um den Abschied ihres Manns aus dem Dienst, weil es schön war und ihr gut stand oder weil sie jemanden darstellen wollte, Virginia Woolf, Juliette Gréco oder Charlotte Corday auf dem Weg zum Schafott. Sie macht solche Sachen.
Im Wohn- und Eßzimmer, durch eine offene Schiebetür verbunden, drängten sich Gäste. Ich erkannte und begrüßte den einen und anderen Polizeibeamten aus der Polizeidirektion Heidelberg. Brigitte flüsterte mir zu: »Gerichtsmedizin? Hat er von der Gerichtsmedizin geredet? Hast du mit der Gerichtsmedizin zu tun?« Frau Nägelsbach brachte uns zwei Gläser Aprikosenbowle.
Es klingelte und klingelte, und mehr Gäste kamen. Die Tür zum Flur stand auf, und ich hörte eine Stimme, die ich kannte. »Nein, ich bin nicht eingeladen. Ich gehöre zu Herrn Selb und muß ihn sprechen.« Karl-Heinz Ulbrich in beigem Anorak über weißem Perlonhemd und geblümter Krawatte. Er kam gleich zu mir, nahm meinen Arm und manövrierte mich durch den Flur in die leere Küche.
»Es sind die Russen.« Er flüsterte, als stünden sie neben ihm und dürften es nicht hören.
»Wer?«
»Die Männer in der Bank und im blauen Mercedes. Russen oder Tschetschenen oder Georgier oder Aserbaidschaner.« Er sah mich bedeutungsund erwartungsvoll an.
»Und?«
»Sie haben wirklich keine Ahnung.« Er schüttelte den Kopf. »Mit denen ist nicht zu spaßen. Die russische Mafia ist nicht so was Harmloses, wie ihr es im Westen habt, nicht wie eure Italiener oder Türken, sondern richtig übel.«
»Sie sagen es, als seien Sie stolz darauf.«
»Sie müssen aufpassen. Wenn die was wollen, kriegen sie es auch. Was immer im Koffer ist – es lohnt nicht, sich deswegen mit denen anzulegen.«
Machte er sich wichtig? Oder war er einer von ihnen, wer immer sie sein mochten? Neben der groben Tour von außen eine sanfte Tour von innen, um den Koffer wiederzukriegen? »Was ist denn im Koffer?«
Er sah mich traurig an. »Wie sollen wir zusammenarbeiten, wenn Sie mir nicht vertrauen? Und wie wollen Sie gegen die eine Chance haben, wenn wir nicht zusammenarbeiten?«
Brigitte kam in die Küche. »Der Chef ist gekommen, und Frau Nägelsbach …«
Aber es war schon zu spät. Wir hörten Nägelsbach seinen Chef mit übertriebener Höflichkeit begrüßen. Ob er ein Glas Bowle wolle? Oder zwei oder drei? Manche Situationen seien nur betrunken auszuhalten. Manche Menschen auch.
Brigitte und ich gingen ins Wohnzimmer, obwohl Ulbrich auf mich einredete. Der Chef hatte Nägelsbach als Abschiedsgeschenk eine Photographie der Heidelberger Polizeidirektion mitgebracht, als sie noch das Grand Hotel war, bemühte sich, nett zu sein, und verstand die Emotionen nicht, die er auslöste. Ich redete mit ihm über die Polizeien der Länder und des Bundes und die Nachrichtendienste, und er schien etwas von den Dingen zu verstehen, von denen er redete. Ich
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