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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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dem Büro trat, wartete auf der anderen Straßenseite der blaue Mercedes. Der Beifahrer machte die Tür auf, stieg aus und rannte los. Aber als er es durch den Feierabendverkehr auf meine Straßenseite geschafft hatte, saß ich schon in meinem Kadett und fuhr an. Er winkte, und der Mercedes hupte und schob sich in den Verkehr, wechselte an der Werderstraße trotz roter Ampel auf meine Straßenseite, ließ den Beifahrer einsteigen und war hinter mir, als ich durch Schwetzingerstadt fuhr.
    Mollstraße, Seckenheimer Straße, Heinrich-Lanz-Straße – auf den Straßen fuhren Autos und Fahrräder, die Geschäfte waren offen, auf den Bürgersteigen liefen Leute, und vor der Heilig-Geist-Kirche spielten Kinder. Es war meine normale, harmlose Welt. Was sollte mir hier passieren? Aber der Mercedes fuhr so dicht hinter mir, daß ich im Rückspiegel seine Front nicht sehen, aber die humorlosen, konzentrierten Gesichter von Fahrer und Beifahrer deutlich erkennen konnte. In der Heinrich-Lanz-Straße fuhren sie auf mich auf, ein sanfter Kontakt von Stoßstange zu Stoßstange, und mir kroch die Angst den Rücken hoch. Als die Ampel an der Reichskanzler-Müller-Straße Rot zeigte und wir hielten, stieg der Beifahrer aus, trat an meine verriegelte Tür, und ich weiß nicht, was er gemacht hätte, wenn nicht ein Polizeiwagen vorbeigefahren und dann die Ampel grün geworden wäre.
    Vor dem Polizeipräsidium fuhr ich halb auf den Bürgersteig und war mit dem Koffer raus aus dem Wagen, die Stufen hoch und in der Tür, ehe der Beifahrer auch nur ausgestiegen war. Ich lehnte an der Wand, den Koffer in meinen Armen vor der Brust, und schnaufte, als wäre ich von der Augustaanlage bis in die Bismarckstraße gerannt.
    Im Hof wartete Nägelsbach mit seinem Audi. Er nahm mir den Koffer ab und legte ihn vor dem Beifahrersitz auf den Boden. Dann half er mir in den Kofferraum. »Meine Frau hat eine Decke reingelegt – läßt sich’s aushalten?«
    Als er mich auf dem Parkplatz des Flughafens in Neuostheim rausließ, war er sicher, daß ihm niemand gefolgt war. Er war auch sicher, daß niemand gesehen hatte, wie ich aus dem Kofferraum gekrochen war, und sich wundern konnte.
    »Soll ich mitkommen?«
    »Fängt es schon an, daß Sie nicht wissen, was Sie mit Ihrer vielen freien Zeit anfangen sollen?«
    »Nein, ich muß von gestern aufräumen und abspülen.« Aber er stand unglücklich und unschlüssig da. »Na dann.«
    Wenig später war ich in der Luft, sah auf Mannheim hinunter und hielt nach blauen Mercedes und beigen Fiestas Ausschau.

18
Angst vorm Fliegen
    Die Frau neben mir hatte Angst vor dem Fliegen. Sie bat mich, ihr die Hand zu halten, und ich hielt sie. Als wir starteten, beruhigte ich sie damit, die meisten Flugzeugunfälle passierten nicht beim Start, sondern erst bei der Landung. Als wir eineinhalb Stunden später unsere Flughöhe verließen, gestand ich ihr, ich hätte geschwindelt; in Wahrheit passierten die meisten Flugzeugunfälle doch nicht bei der Landung, sondern beim Start. Der liege lange hinter uns – sie könne ganz entspannt sein. Aber sie war’s nicht und hastete im Flughafen Tempelhof grußlos davon.
    Ich war seit 1942 nicht mehr in Berlin gewesen, und es hätte mich auch jetzt nicht hierhergezogen, wenn es mit dem Flugzeug und über Berlin nicht am schnellsten nach Cottbus ginge. Ich wußte, daß das viergeschossige Haus, in dem ich aufgewachsen war, mit den Nachbarhäusern 1945 zerstört und in den fünfziger Jahren durch einen fünfgeschossigen Wohnblock ersetzt worden war. Meine Eltern waren beim Angriff umgekommen. Klaras Eltern waren noch vor dem Ende des Kriegs aus ihrer Villa am Wannsee in eine Villa am Starnberger See gezogen. Die Kindheits- und Jugendfreunde waren in alle Winde zerstreut. In den siebziger Jahren gab es einmal ein Klassentreffen. Ich bin nicht hingefahren. Ich mochte mich nicht erinnern.
    Wo sich Friedrichstraße und Unter den Linden kreuzen, fand ich ein billiges Hotel. Als ich am Fenster stand und auf den Verkehr sah, bekam ich Lust, loszulaufen und mich umzuschauen und vielleicht ein Gasthaus zu finden, in dem es wie früher schmeckte, wie zu Hause. Ich ging zum Brandenburger Tor, sah am Pariser Platz die Häuser wachsen und die Kräne sich in den Himmel recken. Am Potsdamer Platz hatte man der Stadt den Brustkorb aufgesägt und operierte sie am offenen Herzen: Scheinwerfer, Gruben, Kräne, Gerüste, Häuserskelette und manchmal schon Geschoß über Geschoß mit Mauerwerk, Balkonen und

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