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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Fenstern. Ich ging weiter und erkannte das Luftfahrtministerium wieder, die Reste des Anhalter Bahnhofs und am Tempelhofer Ufer das Haus, in dem ich als Referendar beim Rechtsanwalt gearbeitet hatte. Die Straße meiner Kindheit mied ich.
    Ich fand kein Gasthaus, in dem es wie früher zu schmecken versprach. Aber ich fand ein italienisches Restaurant, in dem der Barsch mit Bündner Fleisch und Salbei und die Crème caramel so waren, wie sie sein müssen, und der offene sardische Weißwein alle Frascati oder Soave oder Pinot Grigio, die es sonst offen gibt, deklassierte. Ich war zufrieden, ließ mir die nächste U-Bahn-Station nennen und machte mich auf den Weg ins Hotel.
    Am Halleschen Tor wollte ich umsteigen. Aber als ich aus dem letzten Wagen des Zugs trat, standen sieben oder acht junge Leute mit kahlrasierten Schädeln, dunklen Jacken und Springerstiefeln da, als hätten sie auf mich gewartet.
    »He, Opa!«
    Ich wollte weitergehen, aber sie ließen mich nicht durch, und als ich ihnen ausweichen wollte, ließen sie mich nicht vorbei. Sie drängten mich an den Rand des Bahnsteigs. Die U-Bahn ist hier als Hochbahn über den Landwehrkanal gebaut, und unter mir sah ich das dunkle Wasser.
    »Wo geht’s denn hin, Opa?«
    Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig sah ich ein paar Jugendliche, die neugierig herüberschauten. Sonst waren die Bahnsteige leer. »Ins Hotel und ins Bett.«
    Sie lachten, als hätte ich die witzigste Antwort gegeben. »Ins Hotel«, wiederholte der eine, beugte sich vor und schlug sich noch mal und noch mal mit den Händen auf die Schenkel, »ins Bett«. Dann sagte er: »Du warst doch noch dabei, Opa.«
    »Bei was?«
    »Beim Führer, was sonst. Hast du ihn mal gesehen?«
    Ich nickte.
    »Gib dem Opa von deinem Bier, er hat den Führer gesehen.« Der Wortführer stieß seinen Nebenmann mit dem Ellenbogen an. Der Nebenmann hielt mir eine Bierdose hin.
    »Vielen Dank, aber ich habe heute abend genug getrunken.«
    »Hört ihr, er hat den Führer gesehen!« Der Wortführer wandte sich an seine Gruppe und rief es auch den Jugendlichen auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig zu. Dann fragte er mich: »Und wie hast du ihn gegrüßt?«
    »Das wissen Sie doch.«
    »Zeig’s mir, Opa!«
    »Ich möchte das nicht.«
    »Du möchtest es mir nicht vormachen? Dann mach’s mir nach!« Er knallte die Hacken zusammen, riß den rechten Arm hoch und rief: »Heil Hitler!« Von den anderen sagte keiner einen Ton. Er ließ den Arm sinken. »Na?«
    »Ich möchte nicht.«
    »Möchtest du lieber da unten schwimmen?«
    »Nein, ich möchte einfach gehen, in mein Hotel und in mein Bett.« Diesmal lachte keiner. Der Wortführer kam näher, und ich wich zurück, bis ich das Geländer im Rücken spürte. Er hob die Hände und tastete mich ab, wie man jemanden auf Waffen abtastet. »Du hast keine Schwimmweste an, Opa. Du könntest ertrinken. Wenn du erst mal Wasser in die Nase kriegst …« Mit einem Ruck steckte er mir Zeige- und Mittelfinger in die Nasenlöcher und schob meinen Kopf zurück, bis ich drauf und dran war, das Gleichgewicht zu verlieren. »Na?« Er ließ mich los.
    Die Nase tat weh. Ich hatte Angst. Ich konnte nicht schnell genug denken: Sollte ich mitspielen? War es klüger? War es feige? War es Verrat? War, worum es ging, eine Verletzung oder eine Erkältung wert? Dann packten sie mich, und ich stammelte: »Heil Hitler«, und weil der Wortführer verlangte, daß ich es lauter sagte, sagte ich es lauter, und als er sagte: »Noch lauter« und sie mich losließen, stand ich auf dem Bahnsteig und rief, so laut ich konnte: »Heil Hitler.«
    Jetzt lachten sie wieder und klatschten. »Bravo, Opa, bravo.« Aber der Wortführer schüttelte stumm den Kopf, bis auch die anderen verstummten, und sagte: »Habt ihr nicht gesehen? Er hat den Arm nicht gehoben. Ohne Arm gilt nicht.« Sie schauten ihn an und mich und ihn und begriffen, ehe ich begriff. Sie packten mich an Armen und Beinen, johlten, schwangen mich hin und her, »eins und zwei und drei«, und als dröhnend die U-Bahn einfuhr, ließen sie mich übers Geländer in den Kanal fliegen. Als ich auftauchte, hörte ich sie immer noch johlen.
    Am nahen Ufer war die steinerne Böschung zu steil, aber ich schaffte es an die andere Seite und über einen hölzernen Steg auf die Straße, und nachdem zwei Taxen weitergefahren waren, hatte die dritte Plastik auf den Sitzen. So war ich nach zwanzig Minuten im Hotel und unter der heißen Dusche.
    Ich war nicht ernsthaft zu Schaden

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