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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Brock in Leipzig gelebt. Ob das Balg es als Gregor Samarin im Westen nicht besser getroffen habe als in einem kommunistischen Waisenhaus?
    Ja, so hätte er mit mir geredet, von altem Kacker zu altem Kacker. Ich konnte es mir ausmalen. Wenn ich ihn gefragt hätte, ob Gregor Brock nicht Ansprüche gehabt hätte, die Gregor Samarin nicht geltend machen konnte, weil er nichts von ihnen wußte, hätte er abgewiegelt. Ansprüche? Was für Ansprüche? Nach Inflation, Weltwirtschaftskrise und Währungsreform? Wo Welker und er für das, was sie für Ursula Brock getan hatten, ins KZ hätten kommen können?
    Ich konnte mir noch ein anderes Gespräch ausmalen, das im Frühjahr stattgefunden hatte. Schuler erwartete Welker, um ihn über Samarin ins Bild zu setzen, über seine Identität und über seine Machenschaften. Er war im Keller auf das Geld gestoßen und hatte bei der Suche nach Unterlagen über den stillen Teilhaber den Reisepaß gefunden. Den Reisepaß von Ursula Brock, die er nur als Frau Samarin gekannt hatte. Vielleicht fühlte er sich verpflichtet, auch Samarin zu informieren. Aber seine erste Loyalität galt den Welkers, und an Bertram Welker sollte daher auch die erste Information gehen. Dann kam Welker mit Samarin, und Schuler konnte mit Welker nicht so reden, wie er gerne geredet hätte. Er redete geheimnisvoll, hatte Welker gesagt, und vermutlich redete er wirklich geheimnisvoll, nicht so sehr über das Geld als über Gregor Brock. Vielleicht war es auch nicht Welker, sondern Samarin, der Durchfall hatte und oft auf der Toilette war. Vielleicht hatte Schuler also Glück und konnte Welker doch alles sagen, was er ihm sagen wollte.
    Oder war das sein Pech?
    Ich fuhr ins Büro und holte die Medikamente hervor, die ich aus Schulers Badezimmer mitgenommen und aufgehoben hatte. Das Fläschchen Catapresan brachte ich in die Kopernikus-Apotheke, in der mich vier freundliche Apothekerinnen seit langem so gut versorgen, daß ich fast nie einen Arzt brauche. Ich gab das Fläschchen der Chefin. Sie wußte nicht, wann sie dazu kommen würde. Aber als ich am Abend auf dem Heimweg vom Kleinen Rosengarten noch in mein Büro schaute, hatte sie den Inhalt überprüft und das Ergebnis auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Bei den Tabletten handele es sich um Zentramin, ein harmloses Magnesium-Calcium-Kalium-Präparat zur Beruhigung des vegetativen Nervensystems und Stabilisierung der Herznerven bei Rhythmusstörungen. Ich kannte es; auch Zentramin war unter den Medikamenten gewesen, die Dr. Armbrust Schuler verschrieben und die ich in seinem Badezimmer gefunden hatte. Zentramin-Tabletten sähen übrigens Catapresan-Tabletten fast zum Verwechseln ähnlich.

14
Und erst die Sprache!
    Ich kam noch nicht dazu, mir zu überlegen, was zu tun sei. Als ich an der Haustür stand und den Schlüssel aus der Tasche holte, hörte ich »Herr Selb!«, und Karl-Heinz Ulbrich trat aus dem Dunkel ins Licht der Türlampe. Er trug wieder einen dreiteiligen Anzug, hatte aber die Weste aufgeknöpft, der Kragen war offen, und die Krawatte hing schief. Kein Versuch mehr, einen Banker darzustellen.
    »Was machen Sie hier?«
    »Kann ich mit hochkommen?« Als ich einen Moment zögerte, lächelte er. »Ich habe Ihnen schon mal gesagt, daß das Schloß an Ihrer Tür ein Witz ist.«
    Wir gingen schweigend die Treppe hoch. Ich schloß auf, und wie damals bat ich ihn auf das eine Sofa und setzte mich auf das andere. Dann fand ich mich kleinlich; ich stand auf und holte eine Flasche Sancerre und zwei Gläser und schenkte ein. »Mögen Sie Wein?« Er nickte. Turbo kam und strich ihm wieder um die Füße.
    »Was wir für Fehler machen«, fing er unvermittelt an, »was wir alles nicht wissen! Klar können wir’s lernen, aber mit fünfzig lernen, was ihr mit zwanzig lernt, ist schwer, und ein Fehler, der einem mit zwanzig nichts macht, tut mit fünfzig weh. Steuererklärung, Versicherungen, Bankkonten, die Verträge, die ihr über alles und jedes schließt – wir hatten doch davon keine Ahnung. Und erst die Sprache! Ich weiß noch immer nicht, wann ihr’s ehrlich meint und wann nicht. Nicht nur wenn ihr lügt, sondern auch wenn ihr euch darstellt oder etwas vermarktet oder verkauft, haben die Worte eine andere Bedeutung.«
    »Ich kann mir vorstellen, daß das …«
    »Nein, das können Sie nicht. Aber nett, daß Sie’s gesagt haben.« Er nahm sein Glas und trank. »Als Welker mir die Stelle angeboten hat, dachte ich zuerst, Sie hätten ihn vor mir gewarnt und

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