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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Baum geprallt und war tot.«
    »Also hat sie, nachdem sie untergetaucht ist, in Schwetzingen Hilfe gesucht. Hat sie sie gefunden? Haben Weller und Welker ihr einen anderen Paß besorgt? Haben sie diesen Paß für nach dem Krieg aufgehoben?« Er schüttelte langsam und traurig den Kopf. »Aber sie hat’s nicht geschafft.«
    »Du schreibst nur, daß sie 1936 als Jüdin exmatrikuliert wurde. Was hat sie studiert?«
    »Alles mögliche. Ihre Eltern waren großzügig und haben sie nicht gedrängt. Am Ende hat sie Slawistik studiert.« Er sah mich bittend an. »Brauchst du den Paß? Gibst du ihn mir? Ich habe ein Bild von Walter Brock und Frau mit den kleinen Kindern und eines von Heinrich in London, aber keines von ihr.«
    Er holte einen Umschlag aus seiner Aktentasche und blätterte Photographien auf meinen Schreibtisch. Ein Ehepaar vor einer akkurat geschnittenen Hecke, er im Anzug, mit Stehkragen unter dem Kinn und Spazierstock in der Linken, sie im bodenlangen Kleid und mit einer Leine in der Rechten, die am anderen Ende um Brust und Schultern Heinrichs führt, wie das Geschirr eines Pferdes. Heinrich hat einen Matrosenanzug an und eine Matrosenmütze auf, und Ursula, größer als ihr Bruder und nicht angeschirrt an der Seite des Vaters, trägt ein helles Sommerkleid und einen breiten Strohhut. »Nicht bewegen«, hat der Photograph gerade gerufen, und sie halten ganz still und gucken ganz starr. Ein anderes Bild zeigte einen jungen Mann vor der Tower Bridge, die gerade hochgezogen wird und ein Schiff durchläßt. »Heinrich in London?« Georg nickte. »Und das ist Labans Geburtshaus in Breslau, das sein Wohnhaus in Straßburg, diese Postkarte zeigt das Hauptgebäude der Wilhelms-Universität im Bau und …«
    »Wer ist das?« Ich zog ein von Postkarten halb verdecktes Photoporträt hervor. Ich kannte den massigen Kopf, die leicht fliehende Stirn, die großen Ohren und die Basedow-Augen. Ich hatte ihn das erste Mal durch eine beschlagene Scheibe auf der Hirschhorner Höhe gesehen und das letzte Mal aus unmittelbarer Nähe, als wir vom Krankenhaus zum Luisenpark fuhren. Ich hatte ihn auch noch gesehen, als wir aus dem Auto stiegen und in den Park gingen. Aber nie hatte mich Samarins Kopf so beeindruckt wie auf der Fahrt, als wir nebeneinander auf der Rückbank saßen, er stoisch geradeaus sah und ich ihn von der Seite beobachtete.
    »Das ist Laban. Hast du ihn noch nie gesehen?«

13
Zentramin
    So fuhr ich denn noch mal in den Emmertsgrund. Im Grün der Berge leuchtete das erste Gelb und Rot. Auf manchen Feldern brannten Feuer, und einmal zog der Rauch bis an die Autobahn. Ich machte das Fenster auf und wollte riechen, ob es wie früher roch. Aber es toste nur der Wind am offenen Fenster.
    Die Wohnung des alten Weller stand auf und war leer. Ich ging hinein und sah eine Weile von dem Platz, an dem wir uns gegenübergesessen und miteinander geredet hatten, auf die Zementfabrik. Zwei Putzfrauen kamen, störten sich nicht an mir und begannen, den Boden zu wischen. Ich wunderte mich, warum sie nicht warteten, bis die Wohnung frisch gestrichen war. Als ich sie fragte, was mit Weller sei, verstanden sie mich nicht.
    In der Verwaltung erfuhr ich, daß er vor einer Woche an einem Gehirnschlag gestorben war. Ich habe mich nie für Medizin interessiert und werde es auch nicht tun. Ich stellte mir das Gehirn des alten Weller bei der Arbeit vor, rastlos, schlau und böse, angetrieben von meckerndem Lachen wie von einem stotternden Motor. Bis der Motor plötzlich aussetzte. Ich bekam Ort und Zeit der Beerdigung genannt; wenn ich mich beeilte, würde ich es noch schaffen. Mir fiel die Beerdigung von Adolf Schuler ein. Ich hatte sie vergessen, und mir war, als hätte ich noch mal vergessen, ihn festzuhalten und daran zu hindern, ins Auto zu steigen und gegen den Baum zu fahren.
    Der alte Weller hatte gerne mit mir geredet und würde wieder gerne mit mir geredet haben. Mir erklärt haben, wie es im Krieg war. Daß die Großnichte seines stillen Teilhabers umgekommen wäre, wenn Welker und er sie nicht aufgenommen und ihr keine neue Identität gegeben hätten. Daß sie verrückt war, zu allem anderen noch ein Kind zu kriegen – er würde gesagt haben: sich ein Balg machen zu lassen. Daß Welker und er mehr als genug getan hätten, das Balg nach dem Tod der Mutter aufzuziehen. Seine wahre Identität? Was hätte Gregor Samarin davon gehabt, wenn sie ihm seine wahre Identität gesagt hätten? Flausen im Kopf! Außerdem habe die Familie

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