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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Vielleicht gilt die andere, ältere, härtere Moral, die vor der heutigen galt, in unseren Herzen doch noch fort.
    Nur in den Träumen bleibt ein unbewältigter, unbewältigbarer Rest. In dieser Nacht träumte ich, daß Körten und ich an einem gedeckten Tisch unter einem alten, großen Baum mit ausladenden Ästen saßen und aßen. Ich weiß nicht mehr, worüber wir sprachen. Es war ein vertrautes, leichtes Gespräch; ich genoß es, weil ich wußte, daß wir nach dem, was in Trefeuntec geschehen war, eigentlich nicht so vertraut und leicht miteinander reden konnten. Dann fiel mir auf, wie düster es war. Ich dachte zuerst, es wäre das dichte Laubwerk, sah dann aber, daß der Himmel gewitterdunkel war, und hörte den Wind in den Blättern rauschen. Wir redeten, als wäre nichts. Bis der Wind an uns zu zerren begann, plötzlich das Tuch mit Geschirr und Gläsern vom Tisch riß und schließlich Körten mit dem Stuhl forttrug, auf dem er saß, einen mächtig thronenden, dröhnend lachenden Körten. Ich rannte ihm nach und versuchte, ihn festzuhalten, rannte mit ausgestreckten Armen, rannte ohne jede Chance, ihn oder seinen Stuhl zu greifen, rannte so schnell, daß meine Füße den Boden kaum berührten. Während ich rannte, lachte Körten weiter, und ich wußte, daß er über mich lachte, aber nicht, warum, bis ich merkte, daß ich über die Klippe, auf der wir unter dem Baum gesessen hatten, hinausgerannt war und durch die Luft rannte, tief unter mir das Meer. Da war es mit dem Rennen auch schon vorbei, und ich fiel.

11
Sommer
    Plötzlich war der Sommer da, nicht nur mal ein warmer Tag und mal ein lauer Abend, sondern eine Hitze, die im Schatten so drückend war wie in der Sonne und mich nachts nicht schlafen und die Stunden zählen ließ, die die Glocke der Heilig-Geist-Kirche schlug. Wenn es hell wurde, war ich erleichtert, obwohl ich wußte, daß der Morgen nicht frisch und der neue Tag so heiß werden würde wie der letzte. Ich stand auf und trank von dem Tee, den ich am Abend gekocht und in den Kühlschrank gestellt hatte. Manchmal waren die Kratzer und Schrammen, die Turbo sich bei nächtlichen Abenteuern geholt hatte, so schlimm, daß ich sie mit Jod versorgen mußte. Auch er wird alt. Ob er seine Kämpfe noch gewinnt?
    Es war so heiß, daß alles weniger wichtig, weniger drängend war. Als wäre es nicht wirklich wahr, sondern nur vielleicht. Als müßte man erst herausfinden, was es damit auf sich hat, und dazu war es zu heiß.
    Aber ich will es nicht auf die Hitze schieben. Ich wußte nicht mehr, was ich zur Aufklärung von Schulers Tod noch machen sollte. Vielleicht gab es auch nichts aufzuklären, hatte es nie etwas aufzuklären gegeben. Hatte ich mich verrannt? Inzwischen fand ich, daß der Gedanke sogar sein Gutes hatte. Es war nicht so, daß ich, wenn es sich um einen Anschlag gehandelt hatte, weniger verantwortlich war, wie ich zunächst gedacht hatte. Es verhielt sich gerade umgekehrt. Nur wenn Schulers schlechte Verfassung, weil durch jemand anders verursacht, einmalig war, lag sein Leben damals in meiner Hand. Wenn er tatsächlich nur einen Kater gehabt oder das Wetter gefühlt hatte, hätte ihm der Unfall, der ihm passiert war, jederzeit passieren können.
    Die heißen Wochen endeten mit einer Reihe von Tagen, an denen sich die Hitze in gewaltigen abendlichen Gewittern entlud. Um fünf zogen Wolken auf, und um sechs war der Himmel so dunkel, als wolle es Nacht werden. Wind kam auf, fegte Staub durch die Straßen und riß Äste von den Bäumen, die in der Hitze trocken und brüchig geworden waren. Bei den ersten Gewittern blieben die Kinder draußen, jauchzten unter den Tropfen und waren, wenn der Regen wie ein Wasserfall herabstürzte und sie klatschnaß machte, außer sich vor Freude. Dann wurde es ihnen langweilig. Ich saß in der Tür meines Büros und sah zu, wie das Wasser in Wellen über den leeren Gehweg wusch und sich am Rinnstein gurgelnd staute, weil das Gully es nicht schnell genug aufnahm. Wenn das Gewitter vorüber war, war ich als erster draußen und atmete auf dem Weg nach Hause oder zu Brigitte die frische Luft. Die Sonne war während des Gewitters untergegangen. Aber der Himmel war noch mal klar, ein blasses Blau, das in der Dämmerung violett leuchtete, ehe es dunkel wurde, dunkelblau, dunkelgrau, schwarz.
    Ich genoß den Sommer. Ich genoß die Hitze und das Gesetz der Langsamkeit, das sie allem auferlegte und unter dem ich mich frei und wohl fühlte. Ich genoß die Gewitter und

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