Selbs Mord
die mäßigen Temperaturen der folgenden Wochen. Brigitte und ich suchten eine Wohnung, und sie verstand, daß ich unsere Suche nicht sabotieren wollte, wenn ich auf einer Wohnung mit Blick auf Rhein oder Neckar bestand. Ich hätte immer gerne ein Haus am Meer gehabt und wenn nicht am Meer, dann an einem See. Nun liegt Mannheim weder am Meer noch an einem See. Aber es liegt an Rhein und Neckar. »Wir werden die richtige Wohnung schon finden, Gerd.«
Alles stimmte und stimmte doch nicht. Die Geschichten, die das Leben schreibt, wollen ihr Ende, und solange eine Geschichte nicht ihr Ende hat, blockiert sie alle, die an ihr beteiligt sind. Das Ende muß kein Happy-End sein. Die Guten müssen nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft werden. Aber die Schicksalsfäden dürfen nicht lose herumhängen. Sie müssen in den Teppich der Geschichte gewoben werden. Erst wenn sie es sind, können wir die Geschichte hinter uns lassen. Erst dann sind wir frei für Neues.
Nein, die Geschichte, die am Anfang des Jahres im Schnee begonnen hatte, war noch nicht zu Ende, auch wenn ich gerne meinen Frieden mit Schuler gemacht hätte, der einen über den Durst getrunken oder das Wetter schlecht vertragen hatte. Ich kannte nicht alle Fäden, die darauf warteten, in den Teppich gewoben zu werden, und wußte erst recht nicht, wie das Muster des Teppichs aussah oder wie ich es herausfinden könnte. Aber ich mußte nur warten. Die Geschichten wollen ihr Ende und geben keine Ruhe, bis sie es haben.
12
Labans Kinder
Als die Blätter sich zu färben begannen, bekam ich von Georg Post. Er schickte mir ein Manuskript, das in einem rechtshistorischen Journal veröffentlicht werden sollte. »Labans Kinder« – Georg hatte aus seinen Recherchen zu Labans Nachfahren einen kleinen Aufsatz gemacht. Ob ich Anregungen dazu hätte?
Gleich eingangs stellte er klar, daß Laban keine Kinder hatte. Er hatte nicht nur keine natürlichen, sondern auch keine wissenschaftlichen Kinder; während andere Professoren den Kreis ihrer Schüler wie eine Glucke hüteten, achtete Laban darauf, daß seine Schüler rasch auf eigenen Füßen standen und ihrer eigenen Wege gingen. Georg vermutete, daß eine frühe, vielleicht nicht unerwiderte, aber unerfüllte Liebe zur Frau eines Kollegen in Königsberg Laban so gezeichnet hatte, daß er zum Knüpfen tieferer Beziehungen auch nur zu Schülern und erst recht zu Frauen außerstande war.
Und doch hatte er Kinder. Den beiden Kindern seiner Schwester war er so eng verbunden, wie er es eigenen Kindern kaum enger hätte sein können. Seine besondere Zuneigung galt seinem Neffen, der auch Jurist und Richter geworden war: Walter Brock.
Walter Brock. Georg beschrieb seinen Weg von Breslau nach Leipzig, seine Karriere vom Amts- zum Oberlandesgerichtsrat, die Kränkungen, Erniedrigungen und schließlich die Entlassung, mit denen seine Karriere 1933 endete, seine Ehe, seine Kinder Heinrich und Ursula, seinen und seiner Frau Selbstmord, nachdem ihre Wohnung in der Reichskristallnacht kurz und klein geschlagen worden war. Er beschrieb, wie Heinrich es im letzten Moment nach London geschafft hatte. Er beschrieb, daß Ursula es nicht geschafft hatte und daß sie, als die Deportationen begannen, untergetaucht und verschollen war. Laban, der 1918 starb, hatte das kleine, 1911 geborene Mädchen zärtlich geliebt.
Eigentlich hätte ich nicht nachschauen müssen. Aber ich holte Ursula Brocks Reisepaß aus dem Aktenschrank und fand als Geburtsdatum den 10. Oktober 1911. Dann betrachtete ich das Paßbild. Ursula Brock hatte dunkles Haar, einen Bubikopf, ein Grübchen auf der linken Backe und sah mich mit fröhlichen, ein bißchen erschrockenen dunklen Augen aufmerksam an.
Ich erreichte Georg im Gericht. »Ich habe den Paß von Ursula Brock.«
»Was hast du?«
»Ursula Brock, Labans Großnichte – ich habe ihren Paß. Ich habe gerade deinen Aufsatz gelesen und …«
»Ich habe um zwei Verhandlung. Kann ich danach kommen?«
»Ja, ich bin im Büro.«
Er kam und wollte weder Kaffee noch Tee noch Mineralwasser. »Wo ist er?« Er vertiefte sich in die wenigen Seiten mit Paßbild, Vordrucken und Eintragungen und blätterte die folgenden leeren Seiten so langsam und vorsichtig durch, als könnte er ihnen dadurch verborgene Auskünfte entlocken. »Wo hast du ihn her?«
Ich erzählte von Adolf Schuler, seinem Archiv und seinem Besuch. »Er hat mir einen Koffer mit … mit diesem Paß gegeben, ist ins Auto gestiegen, losgefahren, an einen
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