Selbst ist der Mensch
dass die Koordinationsfunktion recht plausibel erscheint. Faszinierenderweise besteht eine stabile Verbindung zum PMC, der zuvor erwähnten wichtigen CD-Region. Diese starke Verbindung wurde erst nach Cricks Tod entdeckt und fand deshalb keinen Eingang in den posthum veröffentlichten Artikel, in dem er zusammen mit Christof Koch seine Ansicht vertrat. 1 Problematisch ist das Claustrum als Kandidat für die Koordinationsfunktion, weil es im Verhältnis zu der Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, sehr klein ist. Da wir aber andererseits nicht damit rechnen sollten, dass eine der zuvor erörterten Strukturen allein die Koordinationsfunktion erfüllen kann, spricht nichts gegen die Annahme, dass auch das Claustrum einen bedeutsamen Beitrag zum Aufbau des autobiografischen Selbst leistet.
Eine mögliche Rolle für die posteromedialen Rindenfelder
Wir müssen mit weiteren Forschungsarbeiten herausfinden, welche Rolle die PMCs beim Aufbau des Bewusstseins im Einzelnen spielen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich einen Überblick über Belege aus verschiedenen Quellen geben: Anästhesieforschung, Schlafforschung, Erforschung neurologischer Krankheiten (von Koma und vegetativem Zustand bis zur Alzheimer-Krankheit) und Untersuchung von Selbst-Prozessen mit funktionellen bildgebenden Verfahren. Zuerst wollen wir uns aber die Erkenntnisse über die PMCs ansehen, die anscheinend am stichhaltigsten und am einfachsten zu interpretieren sind: Befunde aus der experimentellen Neuroanatomie. Ich werde Spekulationen über die mögliche Wirkungsweise der PMCs anstellen und Gründe nennen, warum man sie näher untersuchen sollte.
Als ich die Vermutung äußerte, die PMCs könnten am Aufbau der Subjektivität mitwirken, standen zwei Gedankengänge hinter meinen Überlegungen. Der eine betraf das Verhalten und den mutmaßlichen geistigen Zustand neurologischer Patienten, bei denen umgrenzte Schäden in dieser Region vorliegen; dazu gehören Schäden, wie sie im Spätstadium der Alzheimer-Krankheit auftreten, aber auch extrem seltene Formen des Schlaganfalls und Krebsmetastasen im Gehirn. Der zweite Gedankengang bezog sich auf die theoretische Suche nach einer Gehirnregion, die sich mit ihren physiologischen Eigenschaften dafür eignet, Informationen über den Organismus sowie über die Objekte und Ereignisse, mit denen er in Wechselbeziehung tritt, zusammenzuführen. Dabei war die PMC-Region einer meiner Kandidaten, denn sie liegt offenbar an der Schnittstelle zwischen Nervenbahnen, die (interozeptive) Informationen aus den inneren Organen, (propriozeptive und kinästhetische) Informationen aus dem Muskel-Skelett-System und (exterozeptive) Informationen aus der Außenwelt weiterleiten. Diese Tatsachen stehen nicht infrage, aber ich kann mittlerweile nicht mehr erkennen, dass sie unbedingt die Funktionen erfüllen müssten, die ich mir vorgestellt hatte. Dennoch gab die Hypothese den Anlass zu Untersuchungen, die wichtige neue Erkenntnisse lieferten.
Aufgrund der Hypothese Fortschritte zu erzielen, war nicht einfach, vor allem stellte sich das Problem, dass über die fragliche Region nur sehr begrenzte neuroanatomische Informationen zur Verfügung standen. Einige wertvolle Studien beschäftigten sich bereits mit den Verknüpfungen von Teilen der PMCs, 2 aber insgesamt war der Schaltplan der Region noch nicht aufgeklärt. Die Region war noch nicht einmal unter einem Oberbegriff bekannt, sondern wurde mit den Namen ihrer Bestandteile bezeichnet: Cortex cingulatus posterior, Cortex retrosplenale und Precuneus. Unabhängig vom Namen gehörten die PMCs ganz eindeutig nicht zum Repertoire der bemerkenswerten Gehirnareale.
Zur Überprüfung der Hypothese, dass die PMCs zum Bewusstsein beitragen, waren bis dahin nicht vorhandene Kenntnisse über die neuroanatomischen Verknüpfungen in den PMCs erforderlich. Aus diesem Grund nahm unsere Arbeitsgruppe eine experimentell-neuroanatomische Studie an Affen in Angriff. Die Experimente wurden in Josef Parvizis Labor in Zusammenarbeit mit Gary Van Hoesen durchgeführt. Im Wesentlichen bestand die Studie darin, dass Makaken zahlreiche Injektionen biologischer Tracer in allen Regionen erhielten, deren Neuronenverknüpfungen wir untersuchen wollten. Spritzt man solche Tracer in ein bestimmtes Gehirnareal, werden sie von den Neuronen aufgenommen und über die Axone bis zu ihrem natürlichen Bestimmungsort transportiert, also zu der Stelle, mit der das Neuron gerade verknüpft ist. Solche
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