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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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assoziative Thalamus ist zwar schwer damit beschäftigt, den Hintergrund aller Bilder aufzubauen, er spielt aber eine sehr wichtige – allerdings vielleicht nicht die führende – Rolle, wenn es um die Koordination der Inhalte geht, die das autobiografische Selbst definieren. Ausführlicher werde ich den Thalamus und die Koordination im nächsten Kapitel erörtern.
     
    Wer sind die anderen mutmaßlichen Kandidaten? Ein guter Anwärter ist eine zusammengesetzte Gruppe von Regionen in beiden Hirnhälften, die durch ihre besondere Verknüpfungsarchitektur charakterisiert ist. Jede Region ist ein makroskopischer Knoten und liegt an einem wichtigen Verzweigungspunkt der konvergenten und divergenten Signalübertragung. Solche Areale habe ich in Kapitel 6 als Konvergenz-Divergenz-Regionen oder CD-Regionen bezeichnet und darauf hingewiesen, dass sie aus zahlreichen Konvergenz-Divergenz-Zonen bestehen. CD-Regionen liegen strategisch günstig in Assoziationsfeldern höherer Ordnung, aber nicht innerhalb der Sinnesfelder, welche die Bilder produzieren. An die Oberfläche treten sie an Stellen wie der temporoparietalen Verbindung, den seitlichen und mittleren Schläfenlappen, den seitlichen Scheitellappen, den seitlichen und mittleren Stirnlappen sowie den posteromedialen Rindenregionen. Diese CD-Regionen beinhalten Aufzeichnungen zuvor erworbener Kenntnisse über die verschiedensten Themen. Die Aktivierung jeder dieser Regionen begünstigt die Rekonstruktion verschiedener Aspekte früheren Wissens mittels Divergenz und Retroaktivierung in Richtung der bilderzeugenden Areale. Dabei kann es sich um Aspekte der eigenen Biografie handeln, aber auch um solche, die genetisches, unpersönliches Wissen beschreiben.
    Wie man sich leicht vorstellen kann, könnten die wichtigsten CD-Regionen durch weitreichende Verknüpfungen innerhalb der Hirnrinde, wie sie von Jules Déjérine vor 100 Jahren erstmals identifiziert wurden, weiter integriert werden. Mit solchen Verknüpfungen würde sich eine weitere Ebene der Koordination zwischen den Arealen ergeben.
    Eine der wichtigsten CD-Regionen, die posteromedialen Rindenfelder ( posteromedial cortices, PMCs), steht offenbar in der Funktionshierarchie höher als die anderen und unterscheidet sich auch in mehreren anatomischen und funktionellen Eigenschaften von ihnen. Vor zehn Jahren äußerte ich die Vermutung, die PMC-Region könne mit dem Selbst-Prozess im Zusammenhang stehen, allerdings nicht in der Rolle, die ich mir heute vorstelle. Befunde aus den letzten Jahren legen die Vermutung nahe, dass die PMC-Region tatsächlich am Bewusstsein mitwirkt, insbesondere an den Prozessen im Zusammenhang mit dem Selbst; die Ergebnisse führten zu neuen Informationen über Neuroanatomie und Physiologie dieser Gehirnregion. (Die Befunde werden in den letzten Abschnitten dieses Kapitels genauer erörtert.)
     
    Abb. 9.2 . Die Koordination der vielfältigen Bilder, die durch die fortlaufende Wahrnehmung und Erinnerung erzeugt werden, wird von den Konvergenz-Divergenz-Regionen (CD-Regionen) unterstützt, die in den nichtkartierten Assoziationsfeldern liegen. Das Diagramm zeigt die ungefähre mutmaßliche Lage der wichtigsten CD-Regionen: Sie befinden sich in den vorderen Abschnitten der oberen und der mittleren Schläfenlappen, den mittleren Präfrontalenlappen, den Verbindungen zwischen Schläfen- und Scheitellappen und den posteromedialen Cortices (PMCs). Aller Wahrscheinlichkeit nach gibt es noch andere derartige Regionen. Die meisten in der Abbildung wiedergegebenen CD-Regionen gehören auch zu Raichles »Standard-Netzwerk«, das später in diesem Kapitel erörtert wird.
    Zur Architektur dieser Regionen siehe Kapitel 6 sowie Abbildung 6.1 und 6.2. Einzelheiten zur Verknüpfung einer CD-Region, der PMCs, finden sich in Abbildung 9.4 .
     
    Der letzte Kandidat ist das Claustrum (auch Vormauer genannt), eine rätselhafte Struktur, die in enger Beziehung zu den CD-Regionen steht. Das Claustrum liegt in beiden Gehirnhälften zwischen der Inselrinde und den Basalganglien; seine Verknüpfungen mit der Hirnrinde könnten möglicherweise eine Koordinationsfunktion erfüllen. Francis Crick war überzeugt, das Claustrum sei eine Art Regisseur der Sinnesvorgänge, der die Aufgabe hat, getrennte Bestandteile einer multisensorischen Wahrnehmung miteinander in Verbindung zu bringen. Tatsächlich zeigen Befunde aus der experimentellen Neuroanatomie, dass Verbindungen zu verschiedenen sensorischen Regionen bestehen, so

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