Selbst ist der Mensch
fallen auf den Fußboden des geistigen Schneideraumes, andere werden restauriert und verstärkt, und wieder andere sind so raffiniert mit unseren Wünschen oder den Unwägbarkeiten des Zufalls verknüpft, dass sie neue Szenen entstehen lassen, die nie aufgenommen wurden. Auf diese Weise wird unsere eigene Geschichte im Laufe der Jahre auf subtile Weise immer neu geschrieben. Das ist der Grund, warum Fakten eine neue Bedeutung erlangen können und warum die Musik der Erinnerung heute anders spielt als vor einem Jahr.
Neurologisch betrachtet, spielt sich dieser Bau- und Umbauvorgang vorwiegend in Form unbewusster Verarbeitung ab, und nach allem, was wir wissen, kann er sogar in Träumen stattfinden; gelegentlich taucht er aber auch im Bewusstsein auf. Er bedient sich der Konvergenz-Divergenz-Architektur und macht mit ihrer Hilfe das verschlüsselte, im Dispositionsraum enthaltene Wissen zu einem expliziten, entschlüsselten Vorgang im Bilderraum.
Glücklicherweise – das muss man angesichts der Fülle von Aufzeichnungen über die eigene gelebte Vergangenheit und die vorhergesehene Zukunft wirklich sagen – müssen wir uns nicht jedes Mal an alle oder auch nur die meisten von ihnen erinnern, wenn unser Selbst auf autobiografische Weise tätig wird. Nicht einmal Proust hätte auf seine gesamte, höchst detaillierte und lange zurückliegende Vergangenheit zurückgreifen müssen, um einen Augenblick einhundertprozentiger Selbst-Proustigkeit zu konstruieren. Dankenswerterweise können wir uns auf Schlüsselepisoden verlassen, sogar auf eine ganze Sammlung von ihnen. Je nach den Notwendigkeiten des Augenblicks erinnern wir uns einfach an eine bestimmte Anzahl davon und bringen sie in der neuen Episode zur Geltung. In bestimmten Situationen kann es sich dabei um eine sehr hohe Zahl von herangezogenen Episoden handeln, um eine wahre Flut von Erinnerungen, durchsetzt mit den Emotionen und Gefühlen, von denen sie ursprünglich begleitet waren. (So kann man immer damit rechnen, dass Bach einen in eine solche Situation bringt.) Aber selbst wenn es sich nur um eine begrenzte Zahl von Episoden handelt, ist die Komplexität der an der Strukturierung des Selbst beteiligten erinnerten Inhalte, bescheiden gesagt, sehr hoch. Darin liegt das Problem beim Aufbau des autobiografischen Selbst.
Der Aufbau des autobiografischen Selbst
Wenn ich mit meiner Vermutung recht habe, geht das Gehirn beim Aufbau des autobiografischen Selbst nach folgender Strategie vor: Zuerst müssen nennenswerte Gruppen von charakteristischen biografischen Erinnerungen so angeordnet werden, dass jede von ihnen ohne Weiteres als einzelnes Objekt behandelt werden kann. Jedes derartige Objekt kann das Protoselbst abwandeln und einen Impuls des Kern-Selbst auslösen, wobei es die jeweiligen Gefühle, etwas zu wissen, und die nachfolgende Besonderheit der Objekte im Schlepptau hat. Da die Objekte in unserer Biografie so zahlreich sind, muss das Gehirn als Zweites über Hilfsmittel verfügen, mit denen es das Heraufbeschwören von Erinnerungen koordinieren, sie zu den erforderlichen Interaktionen an das Protoselbst weitergeben und die Ergebnisse der Interaktion in einem zusammenhängenden, mit den verursachenden Objekten verknüpften Muster festhalten kann. Das ist alles andere als eine triviale Aufgabe. Komplexe Ebenen des autobiografischen Selbst – beispielsweise jene, die wesentliche soziale Aspekte einschließen – umfassen so viele biografische Objekte, dass sie zahlreiche Impulse des Kern-Selbst benötigen. Entsprechend erfordert der Aufbau des autobiografischen Selbst einen neuronalen Apparat, der in der Lage ist, in einem kurzen Zeitraum und für eine beträchtliche Zahl von Komponenten viele Pulse des Kern-Selbst aufzunehmen und die Ergebnisse noch dazu vorübergehend zusammenzuhalten.
Aus neuronaler Sicht wird der Koordinationsprozess vor allem dadurch kompliziert, dass die Bilder, aus denen sich eine Autobiografie zusammensetzt, im Großen und Ganzen in den Bilder-Arbeitsräumen der Großhirnrinde umgesetzt werden, wobei Erinnerungen aus den Dispositionsfeldern die Grundlage bilden. Damit solche Bilder bewusst werden, müssen sie jedoch mit dem Apparat des Protoselbst in Wechselwirkung treten, der, wie wir erfahren haben, vorwiegend auf der Ebene des Hirnstamms lokalisiert ist. Der Aufbau eines autobiografischen Selbst setzt also höchst verwickelte Koordinationsmechanismen voraus, Mechanismen, die für den Aufbau des Kern-Selbst im Großen und
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