Selbst ist der Mensch
Schaltkreise schließlich zu einem Protogefühl führen, dem angemessenen Gegenstück zu der Protokognition, die auf der gleichen Ebene ihren Ursprung hat.
Neuronen verfügen tatsächlich über solche Reaktionsfähigkeiten. Ein Beispiel ist die ihnen innewohnende »Sensitivität« oder »Reizbarkeit«. Aufgrund dieses Anhaltspunktes äußerte Rodolfo Llinás die Vermutung, Gefühle könnten aus den spezialisierten sensorischen Funktionen der Neuronen erwachsen und würden dann durch die große Zahl der zu einem Schaltkreis gehörenden Neuronen in ihrem Umfang vergrößert. 8 Ich schließe mich dieser Argumentation an; sie ähnelt dem Gedanken, den ich in Kapitel 2 über den Aufbau eines »kollektiven Lebenswillens« geäußert habe: Dieser äußert sich in dem Selbst-Prozess aufgrund des »Verhaltens« zahlreicher Zellen, die sich in einem Organismus kooperativ verbunden haben. Dahinter steht die Vorstellung, dass sich die Beiträge der einzelnen Zellen summieren: Zahlreiche Muskelzellen ziehen sich ganz buchstäblich mit vereinten Kräften gleichzeitig zusammen und erzeugen so eine einzige, größere, zielgerichtete Kraft.
Die Idee hat faszinierende Nuancen. Die Spezialisierung von Neuronen relativ zu anderen Körperzellen ergibt sich zu einem beträchtlichen Teil aus der Tatsache, dass Neuronen ebenso wie Muskelzellen erregbar sind. Die Eigenschaft der Erregbarkeit erwächst aus einer Zellmembran, in der die lokale Durchlässigkeit für Ionen über die Länge eines Axons von einer Region zur anderen wandert. N. D. Cook äußerte die Vermutung, das vorübergehende, aber häufig wiederholte Öffnen der Zellmembran verletze das Prinzip der nahezu hermetischen Abdichtung, die das Leben im Inneren des Neurons schützt; eine solche Verletzlichkeit, so die Vermutung, könnte durchaus einen Moment von Protogefühl schaffen. 9
Damit möchte ich keinesfalls behaupten, Gefühle müssten auf diese Weise entstehen, aber meines Erachtens lohnt es sich, diesen Forschungsansatz weiterzuverfolgen. Außerdem möchte ich feststellen, dass man solche Gedanken nicht mit den bekannten Bemühungen verwechseln sollte, den Ursprung des Bewusstseins mithilfe von Quanteneffekten auf der Ebene der Neuronen zu lokalisieren. 10
Auf einer weiteren Ebene verlangt die Beantwortung der Frage, warum sich Wahrnehmungskarten des Körpers überhaupt wie etwas anfühlen sollten, nach evolutionstheoretischen Überlegungen. Wenn Wahrnehmungskarten des Körpers den Organismus effizienter dazu veranlassen, Schmerzen zu meiden und Lust zu suchen, sollten sie sich nicht nur wie etwas anfühlen, sondern sie müssten sich sogar wie etwas anfühlen. Die neuronale Konstruktion von Schmerz- und Lustzuständen müsste in der Evolution schon frühzeitig entstanden sein und für ihren weiteren Verlauf eine entscheidende Rolle gespielt haben. Vermutlich ging sie von der Verschmelzung von Körper und Gehirn aus, auf die ich bereits hingewiesen habe. Interessanterweise besaßen die Organismen bereits vor der Entstehung von Nervensystem und Gehirn gut definierte Körperzustände, die zwangsläufig eine Entsprechung zu dem bildeten, was wir später als Schmerz und Lust erlebten. Als dann die Nervensysteme auf der Bildfläche erschienen, eröffneten sie einen Weg, solche Zustände durch detaillierte neuronale Signale abzubilden, während gleichzeitig die neuronalen und körperlichen Aspekte eng aneinander gebunden blieben.
Ein damit verbundener Aspekt der Antwort betrifft die funktionelle Trennung zwischen Lust- und Schmerzzuständen: Lust korreliert mit einem optimalen, reibungslosen Ablauf des Lebensmanagements, Schmerzen mit einem Lebensmanagement, das gehemmt und mit Problemen belastet ist. Diese Enden des Spektrums gehen mit der Ausschüttung bestimmter chemischer Substanzen einher, die sich auf den Körper (Stoffwechsel oder Muskelkontraktion) ebenso auswirken wie auf das Gehirn (wo sie die Verarbeitung neu zusammengestellter wie auch erinnerter Wahrnehmungskarten abwandeln können). Lässt man andere Gründe einmal beiseite, so sollten sich Lust und Schmerz schon deshalb unterschiedlich anfühlen, weil es sich bei ihnen um die Kartierung ganz unterschiedlicher körperlicher Zustände handelt, ganz ähnlich wie sich ein bestimmtes Rot von einem bestimmten Blau unterscheidet, weil beide unterschiedliche Wellenlängen haben, oder wie sich eine Sopranstimme von einem Bariton unterscheidet, weil der Sopran höhere Tonfrequenzen benutzt.
Oft wird übersehen,
Weitere Kostenlose Bücher