Selbst ist der Mensch
Herzkrankheiten, die epidemische Ausmaße angenommen haben. Aufgrund unserer biologischen Ausstattung neigen wir dazu, mehr zu uns zu nehmen, als gut für uns ist, und den gleichen Effekt hatten auch die kulturellen Traditionen, die auf unserer biologischen Ausstattung aufbauen und von ihr geprägt werden; sogar die Werbeindustrie nutzt diesen Effekt aus. Um eine Verschwörung handelt es sich dabei nicht. Es ist nur natürlich. Vielleicht wäre dies ein guter Ansatzpunkt für den Aufbau ritualisierter Fähigkeiten, wenn es nötig ist.
Das Gleiche gilt für die epidemisch um sich greifende Drogensucht. Dass so viele Menschen von allen möglichen Drogen abhängig werden – von Alkohol ganz zu schweigen –, liegt unter anderem am Druck der Homöostase. Im natürlichen Tagesablauf werden wir zwangsläufig mit Frustrationen, Ängsten und Schwierigkeiten konfrontiert, die unsere Homöostase aus dem Gleichgewicht bringen und zur Folge haben, dass wir uns unwohl, vielleicht auch verärgert, entmutigt oder traurig fühlen. Die sogenannten Suchtmittel haben unter anderem den Effekt, das verloren gegangene Gleichgewicht schnell wiederherzustellen, wenn auch nur vorübergehend. Wie kommt es dazu? Nach meiner Überzeugung verändern sie das gefühlte Bild, das das Gehirn sich im jeweiligen Augenblick von seinem Körper macht. Der Zustand der aus dem Gleichgewicht geratenen Homöostase wird neuronal als gehemmte, gestörte Körperlandschaft repräsentiert. Nach Genuss einer bestimmten Drogendosis repräsentiert das Gehirn einen besser funktionierenden Organismus. Das Leid, das dem zuvor gefühlten Bild entsprach, verwandelt sich vorübergehend in Lust. Das Appetitsystem des Gehirns wurde umfunktioniert, aber das Ergebnis ist eigentlich nicht – oder jedenfalls nicht für längere Zeit – die erwünschte Wiederherstellung des Homöostasegleichgewichts. Dennoch erfordert es große Anstrengung, die Möglichkeit einer schnellen Linderung des Leidens abzulehnen, selbst wenn man bereits weiß, dass die Korrektur nur von kurzer Dauer ist und dass die Entscheidung üble Folgen haben kann. In dem zuvor beschriebenen Rahmen gibt es für diesen Zustand einen offenkundigen Grund. Das unbewusste Streben nach Homöostase wird natürlich gesteuert, und nur eine gut trainierte, starke Gegenkraft kann ihm etwas entgegensetzen. Offenbar hatte Spinoza den richtigen Gedanken, als er sagte, einer Emotion, die negative Folgen hat, könne man nur mit einer anderen, stärkeren Emotion entgegenwirken. Den unbewussten Prozess einfach so zu trainieren, dass er höflich ablehnt, ist also wahrscheinlich keine Lösung. Der unbewusste Apparat muss vielmehr vom bewussten Geist so trainiert werden, dass er einen emotionalen Gegenschlag führen kann.
Gehirn und Justiz
Biologisch unterlegte Vorstellungen von bewusster und unbewusster Kontrolle sind von großer Bedeutung für unsere Lebensweise und insbesondere für die Frage, wie wir leben sollten . Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als in Fragen, die das Sozialverhalten betreffen, insbesondere jenen Bereich, den wir als moralisches Verhalten bezeichnen, und den Bruch der in Gesetzen festgeschriebenen sozialen Übereinkünfte.
Im Mittelpunkt der Zivilisation und insbesondere jenes Aspekts der Zivilisation, der mit Justiz zu tun hat, steht die Vorstellung, dass Menschen sich auf andere Weise ihrer selbst bewusst sind als Tiere. In den verschiedenen Kulturkreisen haben sich im Großen und Ganzen Justizsysteme entwickelt, die den Komplexitäten der Entscheidungsfindung mit gesundem Menschenverstand begegnen und darauf abzielen, die Gesellschaft vor Menschen, welche die anerkannten Gesetze brechen, zu schützen. Verständlicherweise wurde dabei den Befunden der Gehirn- und Kognitionsforschung, von seltenen Ausnahmen abgesehen, kein nennenswertes Gewicht beigemessen.
Heute jedoch mehren sich die Befürchtungen, dass Erkenntnisse über die Gehirnfunktion mit ihrem wachsenden Bekanntheitsgrad die Anwendung der Gesetze untergraben könnten – eine Entwicklung, die von den juristischen Systemen bisher im Wesentlichen umgangen wurde, indem man solche Befunde einfach nicht berücksichtigte. Hier ist aber eine abgestufte Betrachtungsweise erforderlich. Die Tatsache, dass jeder, der etwas wissen kann, für die eigenen Handlungen verantwortlich ist, bedeutet nicht, dass die neurobiologischen Erkenntnisse für juristische Abläufe und für ein Bildungswesen, das den zukünftigen Erwachsenen ein angepasstes
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