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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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gesellschaftliches Dasein ermöglichen soll, ohne Bedeutung wären. Im Gegenteil: Anwälte, Richter, Gesetzgeber, Politiker und Erzieher müssen sich mit der Neurobiologie des Bewusstseins und der Entscheidungsprozesse vertraut machen. Das ist wichtig, damit man realistische Gesetze schreiben kann und damit zukünftige Generationen auf einen verantwortlichen Umgang mit den eigenen Handlungen vorbereitet werden.
    Bei bestimmten Fehlfunktionen des Gehirns gelingt es selbst der geübtesten Willenskraft unter Umständen nicht, andere unbewusste oder bewusste Kräfte – das spielt keine Rolle – zu überwinden. Bisher haben wir noch kaum eine Ahnung von den charakteristischen Merkmalen solcher Fälle; wir wissen aber zum Beispiel, dass Patienten mit bestimmten Schäden des präfrontalen Cortex nicht in der Lage sind, ihre Impulsivität unter Kontrolle zu halten. Solche Menschen haben keine normale Kontrolle über ihre Handlungen. Wie soll man sie beurteilen, wenn sie mit der Justiz in Konflikt geraten? Als Kriminelle oder als neurologische Patienten? Ich würde sagen: vielleicht als beides. Ihre neurologische Erkrankung sollte keineswegs als Entschuldigung für ihre Taten dienen, selbst wenn sich damit vielleicht bestimmte Aspekte eines Verbrechens erklären lassen. Wenn sie aber krank sind, handelt es sich tatsächlich um Patienten, und entsprechend müssen sie von der Gesellschaft behandelt werden. In diesem Zusammenhang ist es tragisch, dass wir mit unseren Erkenntnissen über solche Facetten neurologischer Krankheiten noch ganz am Anfang stehen; wenn die Gesundheitsstörung diagnostiziert ist, haben wir im Hinblick auf eine Therapie kaum etwas zu bieten. Dies bedeutet aber keinerlei Einschränkung für die Verantwortung der Gesellschaft, die verfügbaren Kenntnisse aufzunehmen und öffentlich zu diskutieren sowie das Thema weiter zu erforschen. 11
    Manche anderen Patienten, bei denen sich der Schaden des präfrontalen Cortex auf den ventromedialen Bereich konzentriert, beurteilen hypothetische ethische Dilemmata auf sehr praktische, pragmatische Weise, die wenig bis gar nichts mit den besseren Seiten der menschlichen Seele zu tun hat. Konfrontiert man solche Patienten mit dem hypothetischen Fall eines Mordversuchs, der trotz der Mordabsicht nicht zum Tod des Betroffenen geführt hat, schätzen sie die Situation nicht wesentlich anders ein als die einer zufälligen, unabsichtlichen Tötung. Möglicherweise halten sie die erste Situation sogar für besser erträglich. 12 Solche Personen verstehen Motive, Absichten und Folgen auf – gelinde gesagt – unkonventionelle Weise, und das obwohl sie in ihrem Alltagsleben in der Regel keiner Fliege etwas zu Leide tun. In der Frage, wie das Gehirn des Menschen unsere Urteile über Verhaltensweisen verarbeitet und Handlungen steuert, stehen unsere Kenntnisse noch ganz am Anfang.

Natur und Kultur
     
    Die Geschichte des Lebendigen hat die Form eines Baumes mit zahlreichen Ästen, von denen jeder zu einer anderen Spezies führt. Selbst biologische Arten, die nicht am Ende eines der obersten Äste stehen, können in ihrem eigenen zoologischen Umfeld höchst intelligent sein. Ihre Leistungen sollte man im Verhältnis zu diesem Umfeld beurteilen. Betrachten wir aber den Stammbaum des Lebendigen als Ganzes, kommen wir nicht um die Erkenntnis herum, dass die Organismen einen Fortschritt vom Einfachen zum Komplexen erlebt haben. Aus dieser Perspektive kann man vernünftigerweise fragen, wann das Bewusstsein in der Geschichte des Lebendigen auf der Bildfläche erschien. Was leistete es für das Leben? Wenn wir die biologische Evolution als nicht vorausgeplanten Weg in immer höhere Regionen des Lebensbaumes betrachten, lautet die plausible Antwort: Das Bewusstsein tauchte recht spät an einem hohen Punkt im Baum auf. In der Ursuppe oder in Bakterien, in einzelligen oder einfachen vielzelligen Organismen, bei Pilzen oder Pflanzen finden sich keine Anzeichen für ein Bewusstsein. Sie alle sind aber interessante Lebewesen, die raffinierte Instrumente zur Lebenssteuerung besitzen – nämlich genau jene Instrumente, deren Leistungen sich durch das Bewusstsein zu einem späteren Zeitpunkt weiter verbesserten. Keines der genannten Lebewesen hat ein Gehirn, von einem Geist ganz zu schweigen. Ohne Neuronen ist das Spektrum der Verhaltensweisen begrenzt, und Geist ist nicht möglich. Wo es aber keinen Geist gibt, gibt es auch kein Bewusstsein im eigentlichen Sinn, sondern nur

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