Selbst ist der Mensch
gleichen Kräfte veranlasst, die Ehebrecherin Anna Karenina so hart zu bestrafen. Jagos ungeheuerliche Boshaftigkeit hätte ihr Ziel wahrscheinlich nicht erreicht, wäre Othello nicht von Natur aus anfällig für Eifersucht gewesen. Hinter dem Verhalten dieser literarischen Gestalten steckt die kognitive Asymmetrie der Sexualität bei Männern und Frauen, deren Parameter zu einem großen Teil in unserem Genom festgeschrieben und deshalb stets modern sind. Ebenso tiefe Wurzeln im genomischen Unbewussten hat die heftige männliche Aggression eines Achill, Hektor oder Odysseus. Das Gleiche kann man auch von den Gestalten Ödipus und Hamlet sagen, die entweder durch den Bruch des Inzesttabus oder durch die unausgesprochene Neigung, es zu brechen, zugrunde gerichtet werden. Freuds Interpretation dieser zeitlosen Gestalten vermischt sich mit ihrer entwicklungsgeschichtlichen Herkunft und weist auf sehr verbreitete Aspekte der menschlichen Natur hin. Das Theater, der Roman und ihr Erbe im 20. Jahrhundert, der Film, haben in großem Umfang vom genomischen Unbewussten profitiert.
Das genomische Unbewusste ist eine der Ursachen für die charakteristischen Übereinstimmungen im Verhaltensrepertoire der Menschen. Umso bemerkenswerter ist es deshalb, dass wir regelmäßig aus dem Monoton-Allgemeingültigen ausbrechen und stattdessen durch künstlerische Betätigung oder die schiere Magie zwischenmenschlicher Begegnungen in unserem Leben eine unendliche Menge von Variationen schaffen, die uns in Entzücken und Erstaunen versetzen.
Wie man das kognitive Unbewusste erzieht
Größere Kontrolle über die Unwägbarkeiten des menschlichen Verhaltens ist nur dadurch zu gewinnen, dass Kenntnisse gesammelt und die entdeckten Tatsachen bedacht werden. Sich die Zeit für die Analyse der Tatsachen zu nehmen, die Folgen von Entscheidungen zu bewerten und über die emotionalen Konsequenzen solcher Entscheidungen nachzudenken: das ist der Weg zum Aufbau eines praktischen Leitfadens, der auch als Weisheit bezeichnet wird. Auf der Grundlage von Weisheit können wir Entscheidungen treffen und darauf hoffen, unser Verhalten im Rahmen der kulturellen Konventionen und der ethischen Regeln zu steuern, die unsere Biografie und die Welt, in der wir leben, geformt haben. Ebenso können wir auf diese Regeln und Konventionen reagieren, uns dem Konflikt stellen, wenn wir nicht mit ihnen einverstanden sind, und sogar versuchen, sie zu verändern. Ein gutes Beispiel ist der Konflikt, vor dem Kriegsdienstverweigerer stehen.
Nicht weniger wichtig ist etwas anderes: Wir müssen uns bewusst sein, welche Hürde unsere durch bewusstes Denken getroffenen Entscheidungen überwinden müssen. Sie müssen einen Weg ins kognitive Unbewusste finden, um bis zum Handlungsapparat durchzudringen. Diesen Weg der Einflussnahme müssen wir erleichtern. Die Hürde ließe sich zum Beispiel herabsetzen, indem man Vorgänge und Handlungen, deren unbewusste Verwirklichung wir anstreben, bewusst und eingehend übt. Ein solcher Prozess des wiederholten Übens führt zur Beherrschung eines Automatismus , eines bewusst zusammengestellten psychischen Ablaufs, der in den Untergrund gegangen ist.
Ich erfinde hier nichts Neues, sondern skizziere nur einen praktischen Mechanismus. Er leitet sich aus meinen Vorstellungen von den neuronalen Abläufen bei Entscheidungen und Handlungen ab. Auf eine ähnliche Lösung greifen weise Führungsgestalten schon seit Jahrtausenden zurück, wenn sie ihre Anhänger auffordern, disziplinierte Rituale einzuhalten; dies muss den Nebeneffekt haben, dass unbewussten Handlungsabläufen nach und nach bewusst getroffene Entscheidungen aufgezwungen werden. Erwartungsgemäß gehörte zu solchen Ritualen häufig das Hervorrufen gesteigerter Emotionen und sogar Schmerzen – ein empirisch gefundenes Mittel, um dem menschlichen Geist die gewünschten Mechanismen einzuimpfen. Meine Vorstellungen gehen allerdings weit über religiöse und weltliche Rituale hinaus; sie umfassen Fragen aus den verschiedensten Bereichen des Alltagslebens. Insbesondere denke ich dabei an Themen im Zusammenhang mit Gesundheit und Sozialverhalten. Die unzureichende Erziehung der unbewussten Prozesse dürfte beispielsweise eine Erklärung dafür sein, dass viele von uns so schrecklich versagen, wenn es um richtige Ernährung und körperliche Bewegung geht. Wir glauben , wir hätten uns unter Kontrolle, aber oftmals ist das nicht der Fall – das beweisen Fettsucht, Bluthochdruck und
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