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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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Bewusstseinsvorläufer.
    Mit dem Auftauchen der ersten Neuronen tritt eine tiefgreifende Veränderung ein. Neuronen entstehen als Variation des Themas der anderen Körperzellen. Sie bestehen aus den gleichen Bestandteilen wie andere Zellen, ihre allgemeinen Abläufe sind im Wesentlichen die gleichen, und doch sind sie etwas Besonderes. Neuronen werden zu Signalüberträgern, zu Verarbeitungsapparaten, die Nachrichten weiterleiten und empfangen können. Mit dieser Fähigkeit zur Signalübertragung organisieren sich die Neuronen zu komplexen Schaltkreisen und Netzwerken. Schaltkreise und Netzwerke wiederum repräsentieren Ereignisse, die sich in anderen Zellen abspielen, und nehmen direkt oder indirekt Einfluss auf die Funktion anderer Zellen sowie sogar auf ihre eigene Funktion. Neuronen sind ganz und gar auf andere Körperzellen ausgerichtet; dennoch verlieren sie nur deswegen, weil sie die Fähigkeit erlangt haben, Signale elektrochemisch zu übertragen, solche Signale an die verschiedensten anderen Stellen im Organismus weiterzuleiten und ungeheuer komplexe Schaltkreise und Systeme auszubilden, keineswegs ihren Status als Körperzellen. Sie sind Körperzellen, wie alle Körperzellen sind sie dringend auf Nährstoffe angewiesen, und ihre Besonderheit liegt vor allem darin, dass sie zu Kunststücken in der Lage sind, die andere Körperzellen nicht ausführen können. Außerdem streben sie ein langes Leben an, das möglichst ebenso lang sein sollte wie das ihres Besitzers. Die Trennung zwischen Körper und Gehirn wird oft ein wenig übertrieben dargestellt: Die Neuronen, die das Gehirn bilden, sind Körperzellen, und diese Erkenntnis hat Auswirkungen auf das Leib-Seele-Problem.
    Nachdem die Neuronen ihren Platz in bewegungsfähigen Organismen eingenommen haben, schlägt das Leben einen Weg ein, der den Pflanzen verschlossen blieb. Ein unaufhaltsamer Fortschritt in Richtung immer komplexerer Funktionen setzt ein, von raffinierteren Verhaltensweisen bis zu Geistesprozessen und schließlich zum Bewusstsein. Ein Geheimnis, das hinter dieser wachsenden Komplexität steckt, ist heute geklärt. Es hat einerseits mit der schieren Zahl der in einem Organismus verfügbaren Neuronen zu tun, andererseits aber auch – was ebenso wichtig ist – mit den Prinzipien, nach denen sie sich in allmählich immer größeren Schaltkreisen organisierten, bis hin zu den makroskopischen Gehirnarealen, die Systeme mit raffinierten Funktionseigenschaften bilden. Neuronenzahl und Neuronenorganisation sind zusammengenommen der Grund, warum man Fragen nach Verhalten und Geist nicht beantworten kann, indem man ausschließlich einzelne Neuronen, die auf sie wirkenden Moleküle oder die an ihrer Lebenserhaltung beteiligten Gene untersucht. Die Analyse einzelner Neuronen, Mikroschaltkreise, Moleküle und Gene ist zwar unentbehrlich, wenn man das Problem umfassend aufklären will, doch dass sich Geist und Verhalten von Menschenaffen und Menschen so stark unterscheiden, liegt an der Zahl der Gehirnelemente und den Prinzipien ihrer Organisation.
    Nervensysteme entwickelten sich als Manager des Lebens und Wächter des biologischen Wertes. Dabei standen ihnen anfangs gehirnlose Voreinstellungen (»Dispositionen«) zur Seite, später aber auch Bilder, und das heißt: ein Geist. Die Entstehung des Geistes führte bei zahlreichen biologischen Arten zu einer spektakulären Verbesserung der Lebenssteuerung, auch wenn die Bilder noch keine feinen Details enthielten und nur den Augenblick der Wahrnehmung überdauerten, danach aber wieder völlig verschwanden. Ein Beispiel für diese Errungenschaften ist das Gehirn der sozialen Insekten: Es ist erstaunlich kompliziert und doch ein wenig unflexibel, anfällig für Störungen seiner Verhaltensabläufe und nicht in der Lage, Repräsentationen vorübergehend in einem Arbeitsgedächtnis festzuhalten. Von Geist geprägte Verhaltensweisen können bei zahlreichen Tierarten sehr komplex werden, man kann aber mit Fug und Recht die Ansicht vertreten, dass die für menschliche Leistungen charakteristische Flexibilität und Kreativität aus einem Geist allein nicht hätte hervorgehen können. Der Geist musste um einen Protagonisten erweitert werden, um einen Selbst-Prozess, der aus seiner Mitte erwuchs.
    Als das Selbst zum Geist hinzukam, veränderte sich das Spiel des Lebens – anfangs allerdings nur zögernd. Bilder der Innen- und Außenwelt konnten nun zusammenhängend rund um das Protoselbst organisiert werden und sich an

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