Selbst ist der Mensch
den Homöostaseerfordernissen des Organismus orientieren. Dann trugen die Mechanismen von Belohnung und Bestrafung sowie Triebe und Motivationen, welche die Lebensprozesse schon in früheren Evolutionsstadien geprägt hatten, zur Entwicklung komplexer Emotionen bei. Die soziale Intelligenz wurde flexibler. Auf die Entstehung des Kern-Selbst folgte die Erweiterung des mentalen Verarbeitungsraumes, des konventionellen Gedächtnisses und Erinnerungsvermögens, des Arbeitsgedächtnisses und der Vernunft. Die Lebenssteuerung konzentrierte sich nach und nach auf ein immer besser definiertes Individuum. Schließlich erschien das autobiografische Selbst auf der Bildfläche, und mit seiner Entstehung trat eine grundlegende Veränderung der Lebenssteuerung ein.
Während man die Natur als gleichgültig, achtlos und gewissenlos betrachten kann, schuf das Bewusstsein des Menschen die Möglichkeit, die Prinzipien der Natur infrage zu stellen. Mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins verbinden sich evolutionäre Entwicklungen in Gehirn, Verhalten und Geist, die letztlich zur Schaffung der Kultur führten, einer radikalen Neuerung im Lauf der Naturgeschichte. Das Auftauchen der Neuronen mit der nachfolgenden wachsenden Vielfalt der Verhaltensweisen und der Eröffnung eines Weges zum Geist stellt im großen Gesamtbild ein folgenschweres Ereignis dar. Das nächste, ähnlich folgenschwere Ereignis war das Auftauchen eines bewussten Gehirns, das am Ende sogar zu flexibler Selbstreflexion in der Lage war. Mit ihm eröffnete sich der Weg zu einer aufbegehrenden, aber immer noch unvollkommenen Reaktion auf das Diktat einer achtlosen Natur.
Wie entwickelte sich der unabhängige, rebellische Geist? Darüber kann man nur spekulieren, und auf den folgenden Seiten entwerfe ich nur die Skizze eines ungeheuer komplexen Bildes, das man in einem einzelnen Buch nicht vollständig abhandeln kann, von einem einzigen Kapitel ganz zu schweigen. Immerhin können wir sicher sein, dass der Rebell sich nicht plötzlich entwickelte. Ein Geist, der von Karten aus verschiedenen Sinneskanälen gebildet wurde, trug sicher zur Verbesserung der Lebenssteuerung bei, aber selbst als die Karten zu wirklich gefühlten geistigen Bildern wurden, waren sie nicht unabhängig und erst recht nicht rebellisch. Gefühlte Bilder des Körperinneren wurden im Interesse des Überlebens aufgebaut und boten möglicherweise ein hübsches Schauspiel, aber es war niemand da, der hätte zusehen können. Als der Geist erstmals ein Kern-Selbst in sein Repertoire aufnahm, womit das eigentliche Bewusstsein begann, kamen wir dem entscheidenden Punkt ein Stück näher, wir waren aber noch nicht ganz dort angelangt. Ein einfacher Protagonist stellte eindeutig einen Vorteil dar, denn er erzeugte eine feste Verbindung zwischen den Bedürfnissen der Lebenssteuerung und den vielfältigen geistigen Bildern, die das Gehirn sich von seiner Umwelt machte. Die Lenkung wurde optimiert. Die Unabhängigkeit jedoch, um die es mir hier geht, konnte erst dann auf der Bildfläche erscheinen, als das Selbst eine ausreichende Komplexität erlangt hatte und ein vollständigeres Bild der Lebensbedingungen liefern konnte – also nachdem die Lebewesen lernen konnten, dass es Schmerz und Verlust gibt, aber auch Freude und Glück und Überschwang, nachdem man Fragen nach der Vergangenheit und Zukunft der Menschen stellen konnte, nachdem die Fantasie zeigen konnte, wie man das Leid möglicherweise vermindert, den Verlust auf ein Mindestmaß beschränkt und die Wahrscheinlichkeit von Wohlbefinden erhöht. An dieser Stelle lenkte der Rebell die Existenz des Menschen in neue Richtungen, manche davon aufsässig, andere angepasst, alle aber gegründet auf ein Denken durch Wissen – anfangs mythisches, später wissenschaftliches Wissen, aber immer auf Wissen.
Selbst ist der Mensch
Es wäre großartig, wenn man herausfinden könnte, wo und wann das robuste Selbst zum Geist hinzukam und die biologische Revolution namens Kultur in Gang setzte. Aber trotz aller wissenschaftlichen Anstrengungen, Menschenspuren, welche die Zeit überdauert haben, zu interpretieren und zu datieren, können wir solche Fragen bisher nicht beantworten. Eines ist sicher: Das Selbst reifte langsam und allmählich, aber auch ungleichmäßig heran, und der Prozess lief in mehreren Regionen der Erde – wenn auch nicht unbedingt gleichzeitig – ab. Man weiß aber, dass unsere unmittelbaren Vorfahren vor rund 200 000 Jahren auf Erden
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