Selbst ist der Mensch
Mechanismen der »Wertmoleküle« sind ein wichtiges Thema, um dessen Klärung sich heute viele engagierte Neurowissenschaftler bemühen. Was veranlasst die Gehirnkerne, diese Moleküle auszuschütten? Wo werden sie im Gehirn und im übrigen Körper im Einzelnen freigesetzt? Welche Folgen hat ihre Ausschüttung? Irgendwie kommt die Erörterung solcher faszinierenden neuen Erkenntnisse zu kurz, wenn man sich der zentralen Frage zuwendet: Wo liegt der Motor der Wertsysteme? Was ist das biologische Urbild des Wertes? Oder anders gefragt: Was ist der Antrieb für diesen verwickelten Mechanismus? Wo hat er überhaupt seinen Ursprung? Und warum hat er diesen Weg eingeschlagen?
Die bekannten Moleküle und die Gehirnkerne, in denen sie entstehen, stellen mit Sicherheit einen wichtigen Teil des Wertmechanismus dar. Sie sind aber keine Antwort auf die zuvor gestellten Fragen. In meinen Augen ist Wert untrennbar mit Bedürfnis verknüpft, und Bedürfnisse sind an das Leben gebunden. Die Bewertungen, die wir in unseren alltäglichen sozialen und kulturellen Tätigkeiten vornehmen, stehen in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Homöostase. Dieser Zusammenhang ist die Erklärung dafür, warum die Gehirnschaltkreise des Menschen so hervorragend auf die Vorhersage und das Erkennen von Gewinnen und Verlusten ausgerichtet sind, ganz zu schweigen von der Förderung der Gewinne und der Angst vor Verlusten. Mit anderen Worten: Er erklärt die Versessenheit der Menschen, Werte zuzuordnen.
Wert steht in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem Überleben. Insbesondere im Fall des Menschen hat er aber auch mit der Qualität des Überlebens in Form von Wohlbefinden zu tun. Der Begriff des Überlebens – und damit auch im umfassenderen Sinn der Begriff des biologischen Wertes – lässt sich auf vielfältige biologische Gebilde anwenden, von Molekülen und Genen bis zu ganzen Organismen. Ich möchte zuerst die ganzen Organismen betrachten.
Biologischer Wert bei ganzen Organismen
Grob gesagt, besteht der entscheidende Wert für ganze Organismen darin, im gesunden Zustand bis zu einem Alter zu überleben, das den Fortpflanzungserfolg möglich macht. Die natürliche Selektion hat den Homöostaseapparat so perfektioniert, dass er genau dies erlaubt. Demnach ist der physiologische Zustand der Gewebe eines Lebewesens innerhalb eines optimalen Homöostasebereichs letztlich der Ursprung von biologischem Wert und Bewertungen. Diese Aussage trifft für vielzellige Lebewesen ebenso zu wie für jene, deren lebendes »Gewebe« sich auf eine einzige Zelle beschränkt.
Der ideale Homöostasebereich ist nichts Absolutes: Er schwankt, je nachdem in welchem Umfeld sich ein Organismus befindet. Aber an den Außengrenzen des Homöostasebereichs nimmt die Lebensfähigkeit der Gewebe ab, und die Gefahr von Krankheiten und Tod steigt an. In einem bestimmten Abschnitt des Bereichs jedoch gedeihen die lebenden Gewebe, und sie können effizienter und wirtschaftlicher arbeiten. In den Randbereichen zu funktionieren – und sei es auch nur für kurze Zeit – ist bei ungünstigen Lebensbedingungen ein wichtiger Vorteil, aber trotzdem sind Lebenszustände in der Nähe des effizienten Bereichs zu bevorzugen. Man kann vernünftigerweise den Schluss ziehen, dass das Urbild eines Organismenwertes in der Konfiguration physiologischer Parameter festgeschrieben ist. Biologischer Wert steigt und fällt auf einer Skala relativ zur Lebenseffizienz des physischen Zustandes. In gewisser Hinsicht ist biologischer Wert ein stellvertretender Begriff für physiologische Effizienz.
Meine Hypothese lautet: Objekte und Prozesse, mit denen wir uns in unserem täglichen Leben auseinandersetzen, erhalten ihren zugeordneten Wert durch Bezugnahme auf dieses Urbild des durch natürliche Selektion entstandenen Wertes eines Organismus. Die Werte, die Menschen den Objekten und Tätigkeiten zuordnen, hängen irgendwie – vielleicht auch nur indirekt oder entfernt – mit zwei Bedingungen zusammen: erstens mit der allgemeinen Instandhaltung der lebenden Gewebe innerhalb des Homöostasebereichs, der zu ihrem gegenwärtigen Umfeld passt, und zweitens zu der Regulation, die notwendig ist, damit der Prozess in jenem Abschnitt des Homöostasebereichs abläuft, der sich bezogen auf das derzeitige Umfeld mit dem Wohlbefinden verbindet.
Das Urbild des Wertes ist also für ganze Organismen der physiologische Zustand lebenden Gewebes innerhalb eines Homöostasebereichs,
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