Selbst ist der Mensch
Karten entstehen aber auch in einigen tiefer liegenden Schichten, so beispielsweise in den Corpora geniculata, den Colliculi, dem Nucleus tractus solitarius und dem Nucleus parabrachialis. Die Corpora geniculata sind für visuelle und akustische Prozesse zuständig. Auch sie sind schichtweise aufgebaut und eignen sich damit ideal für topographische Repräsentationen. Der Colliculus superior ist ein wichtiger Lieferant visueller Karten und besitzt sogar die Fähigkeit, diese mit akustischen und körperorientierten Karten in Beziehung zu setzen. Der Colliculus inferior dient der akustischen Verarbeitung. Die Tätigkeit der Colliculi superiores dürfte eine Vorstufe der Geistes- und Selbst-Prozesse sein, die später in der Hirnrinde aufblühten. Der Nucleus tractus solitarius und der Nucleus parabrachialis schließlich sind die allerersten Zentren, die Karten des ganzen Körpers an das Zentralnervensystem liefern. Die Aktivität in diesen Karten entspricht, wie wir noch genauer erfahren werden, den ursprünglichen Gefühlen.
Die Karten werden nicht nur aus visuellen Mustern erzeugt, sondern aus allen sensorischen Mustern, an deren Schaffung das Gehirn beteiligt ist. Die Kartierung von Geräuschen beispielsweise beginnt in der Entsprechung des Ohres zur Netzhaut: in der Schnecke (Cochlea), die im Innenohr liegt. Sie nimmt die mechanischen Reize auf, die durch die Vibration des Trommelfells und der darunterliegenden Anordnung kleiner Knochen entstehen. Die Entsprechung zu den Netzhautneuronen sind in der Schnecke die Haarzellen. An der Spitze jeder Haarzelle bewegt sich ein Cilienbündel unter dem Einfluss der Schallenergie und erzeugt damit einen elektrischen Strom, der vom Axonende eines Neurons aus dem Cochlearganglion aufgenommen wird. Dieses Neuron sendet Signale an das Gehirn, und zwar über sechs hintereinander angeordnete Einzelstationen: den Nucleus cochlearis, den Nucleus olivaris superior, den Kern des Lemniscus lateralis, den Colliculus inferior, den Nucleus geniculatus mediale und schließlich die primäre Hörrinde. Letztere ist, was ihre Stellung in der Hierarchie angeht, mit der primären Sehrinde vergleichbar. Die Hörrinde steht am Anfang einer weiteren Signalübertragungskette innerhalb der Großhirnrinde selbst.
Die ersten akustischen Karten bilden sich in der Cochlea, ganz ähnlich wie die ersten visuellen Karten, die in der Netzhaut entstehen. Wie werden solche Geräuschkarten aufgebaut? Die Schnecke ist ein spiralförmiges Gebilde mit insgesamt konischer Form. Sie ähnelt einem Schneckenhaus und wird deshalb auch so genannt. Wer schon einmal im Guggenheim-Museum in New York gewesen ist, kann sich leicht vorstellen, was sich innerhalb der Cochlea abspielt. Man braucht sich nur auszumalen, dass die Kreise nach oben hin immer enger werden und dass das Gebäude insgesamt die Form eines spitz zulaufenden Kegels hat. Die Rampe, auf der man geht, windet sich genau wie in der Cochlea um die senkrechte Achse des Kegels. Innerhalb der spiralförmigen Rampe sind die Haarzellen in einer ganz bestimmten Reihenfolge angeordnet, und von dieser Reihenfolge hängt ab, auf welche Schallfrequenzen sie ansprechen. Die Haarzellen, die auf die höchsten Frequenzen reagieren, befinden sich am unteren Ende der Schnecke, und wenn man auf der Rampe höher steigt, folgen die anderen Frequenzen in absteigender Reihenfolge; an der Spitze der Cochlea schließlich liegen die Haarzellen, die auf die niedrigsten Frequenzen ansprechen. Alles beginnt also mit einem lyrischen Sopran und endet mit dem tiefsten Bass. Das Ergebnis ist eine räumliche Karte möglicher, nach der Frequenz angeordneter Töne, eine tonotopische Karte. Interessanterweise findet sich auch in jeder der fünf Stationen auf dem Weg zur Hörrinde – wo die Karte schließlich als Fläche ausgebreitet wird – eine Version dieser Schallkarte. Wir hören ein Orchester oder die Stimme eines Sängers, weil Neuronen entlang der auditorischen Kette aktiv werden, bis die vielen klanglichen Unterstrukturen, die unsere Ohren erreichen, schließlich in der Hirnrinde einander räumlich zugeordnet werden.
Das Prinzip der Kartierung gilt für viele Muster, die mit dem Aufbau des Körpers zu tun haben, beispielsweise mit den Gliedmaßen und ihren Bewegungen oder den durch eine Verbrennung verursachten Hautverletzungen, aber auch für die Muster, die durch die Berührung der Autoschlüssel in unserer Hand entstehen, wenn wir ihre Form abtasten und ihre glatte
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