Selbst ist der Mensch
Schicht der Hirnrinde – die vierte – ist vermutlich für einen großen Teil der detaillierten Karten verantwortlich. Ebenso wird bei Betrachtung eines Hirnrindenabschnitts klar, warum das Bild von der Landkarte keine an den Haaren herbeigezogene Metapher ist. Auf einem solchen Gitter kann man Muster skizzieren, und wenn man die Augen schließt und der Fantasie freien Lauf lässt, kann man sich das Pergament ausmalen, über dem Heinrich der Seefahrer vermutlich brütete, als er die Reisen seiner Kapitäne plante. Ein großer Unterschied besteht natürlich darin, dass die Linien in einer Gehirn-Landkarte nicht mit Federkiel oder Bleistift gezogen sind; sie sind vielmehr das Ergebnis der augenblicklichen Aktivität mancher Neuronen und der Inaktivität anderer. Wenn bestimmte Neuronen in einer bestimmten räumlichen Verteilung »eingeschaltet« sind, wird eine gerade oder gebogene, dicke oder dünne »Linie gezogen«, ein Muster, das sich vom Hintergrund der »ausgeschalteten« Neuronen abhebt. Ein weiterer großer Unterschied: Die wichtigste Karten erzeugende horizontale Schicht liegt zwischen anderen Schichten eingebettet; jedes Hauptelement dieser Schicht ist auch Teil einer senkrechten Anordnung von Elementen, das heißt einer Säule. Eine solche Säule enthält Hunderte von Neuronen. Die Säulen liefern den Input für die Hirnrinde – dieser kommt von anderen Regionen des Gehirns, von peripheren Sinnesorganen wie den Augen, und aus dem Körper. Ebenso liefern die Säulen auch den Output für die gleichen Quellen, und sie sorgen für eine vielfältige Integration und Modulation der Signale, die an den einzelnen Orten verarbeitet werden.
Anders als in der klassischen Kartographie sind Gehirnkarten nicht statisch. Sie gleichen dem Quecksilber, verändern sich von einem Augenblick zum nächsten und spiegeln so die Veränderungen wider, die sich in den Neuronen, von denen sie versorgt werden, abspielen; diese wiederum sind ein Spiegelbild der Veränderungen im Körperinneren und in unserer Umwelt. An den Veränderungen der Gehirnkarten zeigt sich auch die Tatsache, dass wir selbst ständig in Bewegung sind. Wir nähern uns Gegenständen oder entfernen uns von ihnen, wir können sie berühren oder auch nicht, wir schmecken vielleicht einen Wein, aber dann ist der Geschmack wieder weg, wir hören Musik, aber irgendwann ist sie zu Ende – unser eigener Körper verändert sich mit unterschiedlichen Emotionen. Die gesamte Umwelt, die sich dem Gehirn darbietet, wird ständig von selbst oder unter dem Einfluss unserer Tätigkeit abgewandelt. Entsprechend verändern sich auch die zugehörigen Gehirnkarten.
Eine moderne Analogie zu dem, was im Gehirn in Verbindung mit einer visuellen Karte vorgeht, finden wir in den Bildern auf elektronischen Anzeigetafeln, deren Muster durch aktive oder inaktive Leuchtelemente (Glühbirnen oder LEDs) gebildet werden. Der Vergleich mit elektronischen Karten ist vor allem deshalb zutreffend, weil sich die in ihnen dargestellten Inhalte einfach dadurch, dass sich die Verteilung aktiver und inaktiver Elemente verändert, schnell wandeln können. Jede Verteilung von Aktivitäten stellt ein zeitliches Muster dar. Verschiedene Aktivitätsverteilungen innerhalb des gleichen Abschnitts der Sehrinde können nacheinander oder sogar überlagert ein Kreuz, ein Quadrat oder ein Gesicht abbilden. Die Karten können blitzschnell gezeichnet, neu gezeichnet und überschrieben werden.
Ein ähnlicher »Zeichenvorgang« spielt sich auch in der Netzhaut oder Retina ab, einem hoch entwickelten Außenposten des Gehirns. Auch sie verfügt über ein Gitternetz aus Quadraten, auf dem Karten gezeichnet werden können. Wenn die Lichtteilchen (Photonen) in der Verteilung, die einem bestimmten Muster entspricht, auf die Retina treffen, stellen die Neuronen, die durch dieses Muster – beispielsweise einen Kreis oder ein Kreuz – aktiviert werden, vorübergehend eine neuronale Landkarte dar. Auf den anderen Ebenen des Nervensystems bilden sich dann auf Grundlage dieser ursprünglichen Netzhautkarte weitere Karten. Das liegt daran, dass die Aktivität an jedem Punkt der Netzhautkarte über eine Kette weitergeleitet wird, bis sie in der primären Sehrinde eintrifft; dabei bleiben die geometrischen Beziehungen, die auf der Retina herrschen, erhalten – eine Eigenschaft, die als Retinotopie bezeichnet wird.
Die Schichten der Hirnrinde sind zwar ausgezeichnet in der Lage, detaillierte Karten zu erzeugen, gröbere
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