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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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Musik. In der Regel lieben die Kinder manche Musikstücke mehr als andere; sie reagieren auf die unterschiedlichen Klangfarben von Instrumenten und verschiedene menschliche Stimmen. Ebenso reagieren sie auf unterschiedliche Tempi und Kompositionsstile. Das Gesicht ist dabei ein gutes Spiegelbild ihres Gefühlszustandes. Kurz gesagt, freuen sie sich vor allem dann, wenn sie berührt und gekitzelt werden, wenn sie ihre bevorzugten Musikstücke hören und wenn man ihnen bestimmte Spielzeuge vor die Augen hält. Offensichtlich hören und sehen sie, aber wie gut, das lässt sich nicht feststellen. Das Gehör scheint besser ausgebildet zu sein als das Sehvermögen.
    Was solche Kinder sehen und hören, wird zwangsläufig subkortikal aufgenommen, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach von den Colliculi, die intakt sind. Was sie fühlen, wird subkortikal durch den Nucleus tractus solitarius und den Nucleus parabrachialis zuwege gebracht, die ebenfalls intakt sind; eine Inselrinde oder die somatosensorischen Rinden I und II, die an einer solchen Aufgabe mitwirken könnten, sind jedoch nicht vorhanden. Die von ihnen produzierten Emotionen müssen von den Kernen im periaquäduktalen Grau ausgehen und werden dann von Schädelnervenkernen, die den gefühlsbedingten Gesichtsausdruck steuern, ausgeführt (diese Kerne sind ebenfalls intakt). Die Lebensprozesse werden von einem intakten Hypothalamus gesteuert, der sich unmittelbar oberhalb des Hirnstamms befindet; als Unterstützung dienen dabei das Hormonsystem und das Netzwerk des Vagusnervs. Bei Mädchen mit Hydranenzephalie setzt in der Pubertät sogar die Menstruation ein.
    Dass solche Kinder gewisse Anhaltspunkte für einen Geistesprozess erkennen lassen, steht außer Zweifel. Ebenso kann man ihren Ausdruck von Freude, der häufig über viele Sekunden und sogar Minuten bestehen bleibt und im Einklang mit dem auslösenden Reiz steht, vernünftigerweise mit Gefühlszuständen in Verbindung bringen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es sich bei der von ihnen gezeigten Freude tatsächlich um gefühlte Freude handelt, selbst wenn sie darüber nicht mit vielen Worten berichten können. Demnach erreichen sie die unterste Stufe eines schrittweisen, zum Bewusstsein führenden Mechanismus: Gefühle sind mit einer zusammenhängenden Repräsentation des Organismus (einem Protoselbst) verknüpft, werden möglicherweise durch die Beziehung zu Objekten modifiziert und stellen eine elementare Erfahrung dar.
    Dafür, dass diese Kinder einen – wenn auch nur sehr bescheidenen – bewussten Geist besitzen, spricht ein faszinierender Befund: Wenn ein solches Kind nämlich eine Absence erleidet – ein epileptischer Anfall mit plötzlich einsetzender und ebenso abrupt endender Bewusstseinsstörung und nachfolgender Amnesie –, ist dessen Beginn für die Betreuer leicht zu erkennen; ebenso können sie feststellen, wann der Anfall zu Ende ist und das Kind zu ihnen »zurückkehrt«. Durch den Anfall wird offenbar das sonst vorhandene Minimalbewusstsein ausgeschaltet.
    Menschen mit Hydranenzephalie bieten ein höchst beunruhigendes Bild. Es zeigt uns, welche Grenzen beim Menschen sowohl den Strukturen des Hirnstamms als auch der Großhirnrinde gesetzt sind. Die Krankheit straft die Behauptung Lügen, Empfindungsvermögen, Gefühle und Emotionen würden ausschließlich in der Großhirnrinde entstehen. Das kann ganz offensichtlich nicht stimmen. Bei solchen Personen ist natürlich nur ein sehr begrenztes Maß von Empfindungsfähigkeit, Gefühlen und Emotionen möglich, und was am wichtigsten ist: Sie sind von der größeren Geisteswelt abgekoppelt, die tatsächlich nur die Großhirnrinde liefern kann. Nachdem ich aber einen großen Teil meines Lebens darauf verwendet habe, die Auswirkungen von Gehirnschäden auf Geist und Verhalten der Menschen zu studieren, kann ich eines sagen: Solche Kinder haben kaum Gemeinsamkeiten mit Patienten im vegetativen Zustand, einer Störung, bei der die Wechselbeziehung zur Umwelt noch stärker vermindert ist; der vegetative Zustand entsteht tatsächlich durch Schäden in eben jenen Regionen des Hirnstamms, die bei Hydranenzephalie-Patienten intakt sind. Wenn man überhaupt eine Parallele ziehen kann und von den motorischen Defekten einmal absieht, dann besteht sie zwischen Kindern mit Hydranenzephalie und Neugeborenen, bei denen eindeutig ein Geist tätig ist, während aber das Kern-Selbst gerade erst beginnt, sich zu formen. Dies steht im Einklang mit der Tatsache,

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