Selbst ist der Mensch
des Geheimnisses sein, das hinter der »Bindung« verschiedener Regionen mit zeitlichen Mitteln steht; ich werde solche Mechanismen heranziehen, wenn ich die Tätigkeit von Konvergenz-Divergenz-Zonen (Kapitel 6) und den Aufbau des Selbst (Kapitel 8, 9 und 10) erläutere. 18 Mit anderen Worten: Neben dem Aufbau detailreicher Karten an verschiedenen getrennten Orten muss das Gehirn diese Karten auch zueinander in Beziehung setzen, so dass sie zusammenhängende Einheiten bilden. Ein Schlüssel zu diesem »In-Beziehung-Setzen« könnte der zeitliche Ablauf sein.
Zusammenfassend kann man sagen: Die Vorstellung von einer Karte als festumrissenem Gebilde ist nicht mehr als eine hilfreiche Abstraktion. Hinter ihr versteckt sich eine ungeheuer große Zahl von Neuronenverknüpfungen, die an den einzelnen, getrennten Regionen beteiligt sind und für die Signalübertragung ein gewaltiges Maß an Komplexität schaffen. Was wir als geistige Zustände erleben, entspricht nicht nur der Aktivität in einem abgegrenzten Gehirnareal, sondern es ist das Ergebnis einer umfangreichen, rekursiven Signalübertragung, an der viele Regionen beteiligt sind. Und wie ich in Kapitel 6 noch genauer darlegen werde, werden die expliziten Aspekte bestimmter geistiger Inhalte – ein bestimmtes Gesicht, eine bestimmte Stimme – wahrscheinlich in einer bestimmten Kombination von Gehirnregionen zusammengesetzt ; diese eignen sich von ihrer Konstruktion her zum Zusammensetzen von Karten, wobei allerdings andere Regionen unterstützend mitwirken müssen. Mit anderen Worten: Hinter der Entstehung des Geistes steht eine gewisse anatomische Spezifität, eine gewisse funktionelle Feindifferenzierung im großen Strudel der globalen Neuronenkomplexität.
Wenn man sich darum bemüht, die neuronalen Grundlagen des Geistes aufzuklären, kann man zu Recht die Frage stellen, ob das eben Gesagte eine gute oder eine schlechte Nachricht ist. Darauf kann man zweierlei Antworten geben. Einerseits kann man sich ein wenig entmutigt fühlen angesichts eines solchen Durcheinanders, einer Schwindel erregenden Verwirrung und der Verzweiflung darüber, dass sich aus dem biologischen Chaos vielleicht nie eine klare, gut durchleuchtete Gesetzmäßigkeit ableiten lässt. Man kann sich aber die Komplexität auch von ganzem Herzen zu eigen machen und erkennen, dass das Gehirn dieses scheinbare Durcheinander braucht, um etwas so Reichhaltiges, Bruchloses und Anpassungsfähiges wie die geistigen Zustände zu erzeugen. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Ich hätte mir nur schwer vorstellen können, dass eine festumrissene Karte in einem einzigen Rindenareal es mir ermöglichen könnte, die Klavierpartiten von Bach zu hören oder den Canale Grande in Venedig zu betrachten, ganz zu schweigen von der Freude darüber und von der Entdeckung, was sie in der Welt als Großem und Ganzem zu bedeuten haben. Was das Gehirn betrifft, so ist weniger nur dann mehr, wenn wir das Wesentliche eines Phänomens vermitteln wollen. Ansonsten ist mehr stets besser.
4. Der Körper im Geist
Das Thema »Geist«
Bevor das Bewusstsein als zentrales Thema in den Mittelpunkt von Geistes-und Gehirnforschung rückte, wurde die intellektuelle Diskussion von einem eng damit verwandten Gegenstand beherrscht, dem Leib-Seele-Problem. In dieser oder jener Form zog es sich durch die Gedanken von Philosophen und Wissenschaftlern von Descartes über Spinoza bis in die Gegenwart. Welche Position ich in dieser Frage einnehme, wird aus der funktionsorientierten Darstellung in Kapitel 3 klar: Ein unverzichtbares Element zur Lösung des Problems ergibt sich aus der Fähigkeit des Gehirns, Karten zu erzeugen. Kurz gesagt, stellen komplexe Gehirne wie das unsere von Natur aus mehr oder weniger detaillierte, explizite Karten der Strukturen her, die den eigentlichen Körper bilden. Dabei kartiert das Gehirn zwangsläufig auch die Funktionszustände, die diese Körperbestandteile von Natur aus annehmen. Wie wir bereits erfahren haben, sind Gehirnkarten der Nährboden der geistigen Bilder, und deshalb hat das kartenerzeugende Gehirn die Fähigkeit, den Körper buchstäblich als Inhalt in den Geistesprozess einzubringen. Dank des Gehirns wird der Körper zu einem natürlichen Thema für den Geist.
Aber diese Kartierung des Körpers im Geist hat einen seltsamen, regelmäßig übersehenen Aspekt: Der Körper ist zwar der kartierte Gegenstand, er verliert aber nie den Kontakt mit dem Gehirn, das ihn
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