Selbst ist der Mensch
charakteristische Bedingungen schaffen wollten, jeweils zwei für Bewunderung und Mitgefühl. Bei den Bedingungen für Bewunderung handelte es sich um die Bewunderung für tugendhaftes Handeln (die bewundernswerte Tugend eines Aktes der Großzügigkeit) oder die Bewunderung für virtuose Fähigkeiten (beispielsweise für herausragende Sportler oder faszinierende Musiksolisten). Bei den Bedingungen für Mitgefühl dagegen handelte es sich um Mitgefühl für körperliche Schmerzen (das Gefühl für das unglückliche Opfer eines Verkehrsunfalls) sowie für mentale und zwischenmenschliche Notlagen (Gefühl für einen Menschen, der sein Zuhause durch einen Brand oder einen engen Angehörigen durch eine unbegreifliche Krankheit verloren hat).
Die Unterschiede waren völlig klar, insbesondere da Mary Helen mit großem Erfindungsreichtum reale Geschichten mit einer effizienten Methode koppelte, um sie freiwilligen Versuchspersonen in einem Experiment mit funktioneller Magnetresonanztomographie vorzutragen. 12
Wir prüften drei Hypothesen. Die erste betraf die Frage, welche Gehirnregionen an Gefühlen von Bewunderung und Mitgefühl beteiligt sind. Hier lieferte das Experiment eine eindeutige Antwort: Im Großen und Ganzen wirkten die gleichen Regionen mit wie bei den angeblich so bescheidenen grundlegenden Emotionen. Die Inselrinde war unter allen Bedingungen stark aktiv, ebenso der Cortex cingulatus anterior. Und erwartungsgemäß waren auch Regionen des oberen Hirnstamms eingebunden.
Dieser Befund sprach eindeutig gegen den Gedanken, soziale Emotionen würden den Apparat der Lebenssteuerung nicht im gleichen Umfang einschalten wie ihre grundlegenden Entsprechungen. Dass das Gehirn stark mit einbezogen war, stand im Einklang mit der Tatsache, dass das Erlebnis solcher Gefühle mit starken körperlichen Veränderungen gekoppelt ist. Die Verhaltensstudien von Jonathan Haidt zur Verarbeitung vergleichbarer sozialer Emotionen machen sehr genau deutlich, wie der Körper an solchen Situationen beteiligt ist. 13
Die zweite von uns untersuchte Hypothese betraf das Hauptthema des vorliegenden Buches: Selbst und Bewusstsein. Nach unseren Befunden zieht das Gefühl dieser Emotionen die posteromedialen Cortices (PMCs) heran, eine Region, die nach unserer Kenntnis am Aufbau des Selbst mitwirkt. Dies steht im Einklang mit der Tatsache, dass die Versuchspersonen auf alle als Reiz verwendeten Geschichten nur dann reagieren konnten, wenn sie in vollem Umfang zum Zuschauer und Richter über die Situation wurden; sie mussten also im Fall des Mitgefühls die Notlage der Hauptpersonen vollständig nachvollziehen, und im Zusammenhang mit der Bewunderung erforderte dies die vorausschauende Nachbildung der guten Tat.
Wir fanden aber auch etwas Unerwartetes: In Situationen der Bewunderung für gute Fähigkeiten und des Mitgefühls für körperliche Schmerzen war ein anderer Teil der PMCs am aktivsten als bei der Bewunderung für die Tugendhaftigkeit und beim Mitgefühl für mentalen Schmerz. Die Trennung war so auffällig, dass die Aktivitätsmuster der PMCs bei den beiden Paaren von Emotionen buchstäblich wie zwei Puzzlesteine zusammenpassten.
Das gemeinsame Merkmal des einen Paares von Bedingungen – Fähigkeiten und körperliche Schmerzen – war die Beteiligung des Körpers mit seinen äußeren, handlungsorientierten Aspekten. Das andere Bedingungspaar – psychische Schmerzen durch große Leiden und Tugendhaftigkeit – hatte als gemeinsames Merkmal einen geistigen Zustand. Die Befunde an den PMCs besagen also, dass das Gehirn diese gemeinsamen Merkmale – Körperlichkeit im einen Fall, geistige Zustände im anderen – erkannt hatte und ihnen viel mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem grundlegenden Unterschied zwischen Bewunderung und Mitgefühl.
Die mutmaßliche Erklärung für diesen schönen Befund ergibt sich aus den unterschiedlichen Verknüpfungen, die von den beiden Teilen des PMC im Gehirn der einzelnen Versuchspersonen relativ zu deren Körper ausgehen. Der eine Abschnitt ist eng mit Teilen des Bewegungsapparates verbunden, der andere mit dem Körperinneren, das heißt mit innerem Milieu und Organen. Der aufmerksame Leser vermutet wahrscheinlich schon, was wozu gehört. Das Merkmal der Körperlichkeit (Fähigkeit, körperliche Schmerzen) hängt mit Muskeln und Skelett zusammen. Das geistige (mentale Schmerzen, Tugendhaftigkeit) ist mit dem inneren Milieu und den Organen verbunden. Würde irgendjemand etwas anderes
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