Selbst ist der Mensch
Objekte werden von früher erworbenen Kenntnissen von vergleichbaren Objekten beeinflusst oder von Situationen, die der, welche wir gerade erleben, ähneln. Unsere Erinnerungen sind von unserer persönlichen Vorgeschichte geprägt . Die völlig originalgetreue Erinnerung ist ein Mythos, der nur auf triviale Gegenstände zutrifft. Die Vorstellung, das Gehirn könne jemals so etwas wie eine isolierte »Erinnerung an ein Objekt« enthalten, ist offenbar nicht mehr haltbar. Das Gehirn enthält die Erinnerung an das, was während einer Interaktion abgelaufen ist, und zu dieser Interaktion gehört als wichtiger Bestandteil unsere eigene Vergangenheit, oft auch die Vergangenheit unserer Spezies und unserer Kultur.
Die Tatsache, dass wir nicht durch passives Aufnehmen, sondern durch Mitwirkung wahrnehmen, ist das Geheimnis hinter dem »Proust-Effekt« des Erinnerungsvermögens und der Grund, warum wir uns häufig nicht nur an isolierte Dinge, sondern an Zusammenhänge erinnern. Es ist aber auch von Bedeutung, wenn man verstehen will, wie das Bewusstsein überhaupt zustande kommt.
Zuerst kam die Disposition, dann folgten die Karten
Das charakteristische Kennzeichen von Gehirnkarten ist der relativ gut durchschaubare Zusammenhang zwischen den repräsentierten Dingen – Form, Bewegung, Farbe, Geräusch – und dem Inhalt der Karte. Zwischen dem Muster in der Karte und dem kartierten Ding besteht eine offenkundige Entsprechung. Ein intelligenter Beobachter, der auf seinen wissenschaftlichen Wanderungen über die Karte stolpert, sollte theoretisch sofort erraten können, wofür die Karte stehen soll. Bekanntermaßen ist das bisher nicht möglich, doch mit neuen bildgebenden Verfahren hat man große Schritte in diese Richtung unternommen. In Untersuchungen mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) konnte man mit multivariater Musteranalyse nachweisen, dass im Gehirn der Versuchspersonen spezifische Aktivitätsmuster auftauchen, wenn sie bestimmte Objekte sehen oder hören. In einer kürzlich erschienenen Studie aus unserer Arbeitsgruppe (Meyer et al., zitiert in Kapitel 3) konnten wir in der Hörrinde Muster nachweisen, die dem entsprechen, was die Versuchspersonen mit ihrem »geistigen Ohr« hören (ohne dass tatsächlich Geräusche vorhanden waren). Die Ergebnisse betreffen unmittelbar die von Dick Diver gestellte Frage.
Die biologische Entwicklung der Kartierung und ihre unmittelbaren Folgen – Bilder und Geist – stellen einen bislang nur unzureichend gewürdigten entwicklungsgeschichtlichen Übergang dar. Nun könnte man fragen: Übergang von wo aus? Es war der Übergang von einer Form der neuronalen Repräsentation, die in einem kaum erkennbaren Zusammenhang mit dem repräsentierten Ding stand. Ich möchte ein Beispiel nennen. Stellen wir uns zunächst einmal vor, ein Objekt trifft auf ein Lebewesen, und als Reaktion gibt eine Neuronengruppe ihre Impulse ab. Das Objekt kann spitz oder stumpf sein, groß oder klein, von einer Hand geführt oder selbst beweglich, es kann aus Kunststoff, Stahl oder Fleisch bestehen. Entscheidend ist, dass es an irgendeiner Stelle auf die Oberfläche des Lebewesens trifft . Auf den Stoß reagiert eine Neuronengruppe mit Aktivität, ohne dass sie aber tatsächlich die Eigenschaften des Objekts repräsentiert. Jetzt stellen wir uns eine andere Neuronengruppe vor, die aktiv wird, nachdem sie ein Signal von der ersten Gruppe empfangen hat und nun dafür sorgt, dass sich der Organismus aus seiner bisherigen Position wegbewegt. Beide Gruppen repräsentieren weder den Ort, an dem sich der Organismus anfangs befand, noch den Ort, an dem er zum Stillstand kommen soll, und keine der beiden Gruppen repräsentiert die physikalischen Eigenschaften des Objekts. Notwendig sind nur die Wahrnehmung des Stoßes, ein Kommandoapparat und die Fähigkeit, sich zu bewegen. Das ist alles. Solche Neuronengruppen repräsentieren offenbar keine Karten, sondern Dispositionen , Knowhow-Formeln, die beispielsweise für Folgendes stehen: Wenn von einer Seite ein Stoß kommt, bewege dich x Sekunden lang in die andere Richtung, ohne darauf zu achten, was für ein Objekt dich getroffen hat oder wo du dich befindest.
In der Evolution funktionierten die Gehirne sehr lange auf der Grundlage solcher Dispositionen, und manche derart ausgestatteten Organismen kamen in einer geeigneten Umgebung hervorragend zurecht. Das Dispositions-Netzwerk erreichte eine Menge und wurde mit seiner Leistungsfähigkeit immer
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