Selbst ist der Mensch
vermuten?
Schließlich gab es noch eine Hypothese und ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis. Unsere Hypothese lautete: Mitgefühl für körperliche Schmerzen – die entwicklungsgeschichtlich ältere Reaktion des Gehirns, die es eindeutig auch bei mehreren anderen Tierarten gibt – sollte vom Gehirn schneller verarbeitet werden als das Mitgefühl für seelischen Schmerz, denn dieses erfordert die kompliziertere Verarbeitung einer weniger offenkundigen Notlage und wahrscheinlich auch ein breiteres Spektrum von Kenntnissen.
Die Befunde bestätigten die Hypothese. Das Mitgefühl für körperliche Schmerzen ruft in der Inselrinde eine schnellere Reaktion hervor als das Mitgefühl für seelischen Schmerz. Die Reaktionen auf körperliche Schmerzen stellen sich nicht nur schneller ein, sondern verschwinden auch schneller wieder. Im Fall des seelischen Schmerzes dauert die Ausbildung der Reaktion länger, sie löst sich aber auch nicht so schnell wieder auf.
Die Studie ist zwar vorläufiger Natur, aber sie verschafft uns einen ersten Eindruck davon, wie das Gehirn Bewunderung und Mitgefühl verarbeitet. Wie nicht anders zu erwarten, liegt die Wurzel dieser Prozesse tief im Gehirn und im Körper. Und wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, werden sie stark durch die individuellen Erfahrungen beeinflusst.
6. Eine Architektur für das Gedächtnis
Irgendwie, irgendwo
»Wird jemals wieder einer von uns einen Zug abfahren sehen, ohne ein paar Schüsse zu hören?«, fragt Dick Diver, die Hauptfigur in dem Roman Zärtlich ist die Nacht von F. Scott Fitzgerald seine Begleiter, als sie an einem Pariser Morgen ihrem Freund Abe North zum Abschied winken. Diver und seine Gesellschaft sind gerade Zeugen eines unerwarteten Vorfalls geworden: Eine verzweifelte junge Frau hat einen kleinen, perlmuttbesetzten Revolver aus der Handtasche gezogen und ihren Geliebten erschossen, während der abfahrende Zug pfeifend den Bahnhof St. Lazare verließ.
Divers Frage macht auf augenfällige Weise deutlich, dass unser Gehirn über eine spektakuläre Fähigkeit verfügt: Es vermag zusammengesetzte Informationen zu erlernen und später mit beträchtlicher Originaltreue sowie aus unterschiedlichen Perspektiven wiederzugeben, ob wir es wollen oder nicht.
Diver und seine Begleiter werden von nun an immer, wenn sie einen Bahnhof betreten, im Geist imaginäre Schüsse hören ; es ist eine schwächere, aber wiedererkennbare Annäherung an die Geräusche, die sie an jenem Morgen vernommen haben, und ein unwillkürlicher Versuch, die an jenem Morgen erlebten akustischen Bilder wiederzugeben. Und da wir zusammengesetzte Erinnerungen anhand der Repräsentation jedes beliebigen Teils abrufen können, der zu dem Ereignis gehört, hören sie die Schüsse vielleicht nicht nur, wenn sie tatsächlich einen Zug aus dem Bahnhof abfahren sehen, sondern auch wenn jemand einfach nur in einem beliebigen Umfeld abfahrende Züge erwähnt. Ebenso hören sie die Schüsse vielleicht, wenn jemand Abe North (die Person, deretwegen sie dort waren) oder den Bahnhof St. Lazare (den Ort des Geschehens) erwähnt. Das Gleiche erleben auch Menschen, die sich in Kriegsgebieten aufgehalten haben und die Kampfgeräusche und Kriegsszenarien nun ständig in Form quälender, unwillentlicher Erinnerungsblitze wiedererleben. Das posttraumatische Stress-Syndrom ist die unerwünschte Nebenwirkung einer ansonsten großartigen Fähigkeit.
Ganz allgemein hilft es, wie auch in dieser Geschichte, wenn das Ereignis, an das man sich erinnert, emotional einen tiefen Eindruck hinterlässt und die Wertmaßstäbe erschüttert. Vorausgesetzt, die Szene hat einen gewissen Wert und zum fraglichen Zeitpunkt waren genügend Emotionen vorhanden, lernt das Gehirn in Multimedia-Manier Anblicke, Geräusche, Berührungen, Gefühle, Gerüche und Ähnliches, um sie dann auf ein Stichwort hin wieder gegenwärtig werden zu lassen. Im Laufe der Zeit wird die Erinnerung häufig schwächer. Im Laufe der Zeit und mit der Fantasie eines Märchenerzählers wird das Material unter Umständen ausgeschmückt, in Stücke zerlegt und als Roman oder Theaterstück neu zusammengestellt. Was als Stummfilm begann, verwandelt sich dann möglicherweise sogar Schritt für Schritt in eine bruchstückhafte mündliche Erzählung, an die man sich wegen der Worte ebenso erinnert wie wegen der visuellen und der anderen akustischen Elemente.
Betrachten wir nun einmal dieses Wunder der Erinnerung und denken wir daran, welche
Weitere Kostenlose Bücher