Selbst ist der Mensch
daraus hervorgegangenen Anweisungen im Genom. Diese Anweisungen haben sich im Laufe der Evolution kaum verändert und führten dazu, dass das Gehirn auf eine ganz bestimmte, zuverlässige Weise zusammengesetzt wird. Deshalb können bestimmte Neuronenschaltkreise emotional kompetente Reize verarbeiten und die emotionsauslösenden Gehirnregionen dazu veranlassen, eine voll ausgeprägte emotionale Reaktion aufzubauen. Emotionen und die ihnen zugrunde liegenden Phänomene sind für die Aufrechterhaltung des Lebens und für die spätere Reifung des Individuums derart unentbehrlich, dass sie schon im frühen Stadium der Entwicklung zuverlässig angelegt werden.
Die Tatsache, dass Emotionen nicht erlernt werden, sondern automatisch ablaufen und vom Genom vorgegeben sind, beschwört immer das Gespenst des genetischen Determinismus herauf. Gibt es an den Emotionen nichts, was persönlich und durch Erziehung zu beeinflussen wäre? Die Antwort lautet: Es gibt eine Menge. Der grundlegende Emotionsmechanismus ist im gesunden Gehirn verschiedener Individuen tatsächlich recht ähnlich, und das ist auch gut so, verschafft es doch den Menschen verschiedener Kulturkreise eine gemeinsame Basis für das Erleben von Schmerz und Freude. Aber auch wenn sich die Mechanismen eindeutig ähneln, sind die Umstände, unter denen bestimmte Reize emotional kompetent werden, für Sie vermutlich andere als für mich. Der eine Mensch fürchtet bestimmte Dinge, der andere nicht; der eine liebt bestimmte Dinge, der andere nicht, und dann gibt es viele, viele weitere, die von vielen Menschen gefürchtet oder geliebt werden. Mit anderen Worten: Emotionale Reaktionen sind im Verhältnis zum auslösenden Reiz von beträchtlicher Individualität. In dieser Hinsicht sind wir uns zwar sehr ähnlich, aber nicht gleich. Darüber hinaus hat die Individualisierung weitere Aspekte. Unter dem Einfluss der Kultur, in der wir aufgewachsen sind, oder auch als Folge unserer individuellen Erziehung verfügen wir über die Möglichkeit, den Ausdruck unserer Emotionen teilweise zu steuern. Wir alle wissen, wie unterschiedlich Lachen oder Weinen in verschiedenen Kulturen öffentlich zur Schau gestellt werden und wie solche Äußerungen selbst unter den Mitgliedern bestimmter gesellschaftlicher Schichten unterschiedlich ausgeprägt sind. Die Ausdrucksformen für Emotionen ähneln sich, sind aber nicht genau gleich. Sie können abgewandelt werden und sehr individuell sein oder auf eine gesellschaftliche Gruppe schließen lassen.
Der Ausdruck von Emotionen kann zweifellos willkürlich abgewandelt werden. Diese Form der Kontrolle geht aber offensichtlich nicht über die äußere Manifestation hinaus. Da zu den Emotionen noch viele weitere Reaktionen gehören, von denen manche innerlich und für andere mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind, läuft das Emotionsprogramm stets zum größten Teil ab, ganz gleich, mit wie viel Willenskraft wir es aufzuhalten versuchen. Am wichtigsten ist, dass die Gefühle der Emotion, die sich aus der Wahrnehmung der Gesamtheit aller emotionalen Veränderungen ergeben, auch dann stattfinden, wenn der äußere Ausdruck der Emotion teilweise unterbrochen wird. Emotionen und Gefühle haben, wie es ihren ganz unterschiedlichen physiologischen Mechanismen entspricht, zwei Gesichter. Einem Stoiker, der beim Eintreffen einer tragischen Nachricht höchstens ein wenig die Oberlippe verzieht, sollten wir deshalb nicht unterstellen, dass er keine Furcht oder Angst empfindet. Diese Erkenntnis wird in einem alten portugiesischen Sprichwort zusammengefasst: »Wer ein Gesicht sieht, bekommt nie das Herz zu sehen.« 10
An den Rändern des Emotionsspektrums
Neben den universellen Emotionen verdienen zwei Gruppen von Emotionen eine besondere Erwähnung. Auf eine davon machte ich vor Jahren aufmerksam, und ich gab ihr auch einen Namen: Hintergrundemotionen. Beispiele dafür sind Begeisterung und Entmutigung , zwei Emotionen, die im Leben durch die verschiedensten äußeren Umstände ausgelöst werden können, aber auch durch innere Zustände wie Krankheit oder Erschöpfung. Noch mehr als bei anderen Emotionen wirkt der emotional kompetente Reiz bei Hintergrundemotionen häufig im Verborgenen und löst die Emotion aus, ohne dass wir uns seiner bewusst wären. Solche Emotionen können beispielsweise entstehen, wenn wir über eine vergangene Situation nachdenken oder eine Situation betrachten, die nur eine Möglichkeit darstellt. Die daraus erwachsenden
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