Selbst ist der Mensch
Hintergrundgefühle stellen gegenüber den ursprünglichen Gefühlen nur einen kleinen Schritt aufwärts dar. Hintergrundemotionen sind enge Verwandte der Stimmungslagen, unterscheiden sich aber von diesen durch ihr genauer umrissenes zeitliches Profil und die genauere Identifizierung des Reizes.
Die zweite große Gruppe sind die sozialen Emotionen. Dies ist eine etwas eigenartige Bezeichnung, denn schließlich können alle Emotionen sozial sein und sind es häufig auch. Sie ist aber angesichts des eindeutigen sozialen Umfeldes dieser Phänomene zu rechtfertigen. Sehr einfach erkennt man dies, wenn man Beispiele für die wichtigsten sozialen Emotionen betrachtet: Mitgefühl, Peinlichkeit, Scham, Schuldgefühle, Verachtung, Eifersucht, Neid, Stolz, Bewunderung . Solche Emotionen werden in sozialen Situationen ausgelöst und spielen im Leben sozialer Gruppen eine herausragende Rolle. In ihrer physiologischen Wirkungsweise unterscheiden sich soziale Emotionen nicht von anderen: Sie erfordern einen emotional kompetenten Reiz, sie sind von bestimmten Auslöserstellen abhängig, sie werden durch verwickelte Handlungsprogramme aufgebaut, an denen der Körper beteiligt ist, und sie werden von dem Betroffenen in Form von Gefühlen wahrgenommen. Es gibt aber auch einige erwähnenswerte Unterschiede. Die meisten sozialen Emotionen sind recht junger evolutionärer Herkunft, und manche dürfte es ausschließlich bei Menschen geben. Dies gilt offenbar für die Bewunderung und die verschiedenen Formen des Mitgefühls, das sich nicht auf die körperliche, sondern auf mentale und zwischenmenschliche Schmerzen bezieht. Vorläufer gewisser sozialer Emotionen findet man bei vielen Tierarten, insbesondere bei Primaten und den großen Menschenaffen. Gute Beispiele sind das Mitgefühl bei physischen Zwangslagen, Peinlichkeit, Neid und Stolz. Kapuzineraffen reagieren anscheinend auf erkennbare Ungerechtigkeiten. Die sozialen Emotionen schließen eine Reihe moralischer Prinzipien ein und bilden eine natürliche Grundlage für ethische Systeme. 11
Exkurs: Bewunderung und Mitgefühl
Handlungen und Sachverhalte, die wir bewundern, aber auch unsere Reaktionen auf jene, die für diese Handlungen und Sachverhalte verantwortlich sind, definieren die Qualität einer Kultur. Ohne eine geeignete Belohnung werden bewundernswerte Verhaltensweisen mit geringerer Wahrscheinlichkeit nachgeahmt. Für Mitgefühl gilt das Gleiche. Notlagen aller Art gibt es im täglichen Leben in Hülle und Fülle, und wenn sich der Einzelne gegenüber denen, die davon betroffen sind, nicht mitfühlend verhält, verringern sich die Aussichten auf eine gesunde Gesellschaft erheblich. Wenn Mitgefühl nachgeahmt werden soll, muss es belohnt werden.
Was geht im Gehirn vor, wenn wir Bewunderung oder Mitgefühl empfinden? Ähneln die Vorgänge im Gehirn, die solchen Emotionen und Gefühlen entsprechen, in irgendeiner Form denen, die wir im Zusammenhang mit grundlegenden Emotionen wie Angst, Glück und Trauer benannt hatten? Sind sie anders? Soziale Emotionen scheinen so stark von der Umwelt abhängig zu sein, in der sich ein Mensch entwickelt, und sind offenbar so stark mit erziehungsbedingten Faktoren gekoppelt, dass sie vielleicht nur wie eine kognitive Tünche wirken, die lose auf die Gehirnoberfläche aufgebracht wurde. Wichtig ist auch eine Untersuchung der Frage, ob und wie die Verarbeitung solcher Emotionen und Gefühle, an der das Selbst des Betrachters eindeutig beteiligt ist, jene Gehirnstrukturen mit heranzieht, die wir mittlerweile mit den Zuständen des Selbst in Verbindung bringen.
An die Beantwortung solcher Fragen machte ich mich zusammen mit Hanna Damasio und Mary Helen Immordino-Yang, die sich für die Schnittstelle zwischen Neurowissenschaft und Bildungsforschung begeistert und sich gerade deshalb für die Frage interessiert. Wir stellten uns eine Studie vor, in der wir mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie der Frage nachgehen wollten, wie Geschichten bei gesunden Menschen Gefühle von Bewunderung oder Mitgefühl auslösen können. Wir wollten bewundernde oder mitfühlende Reaktionen erzeugen, die durch bestimmte, in einer Erzählung dargelegte Verhaltensweisen hervorgerufen wurden. Die Frage, ob die Versuchspersonen Bewunderung oder Mitgefühl erkennen, wenn sie diese bei anderen beobachten, interessierte uns nicht. Wir wollten, dass die Versuchspersonen die Emotionen erlebten . Dabei wussten wir von Anfang an, dass wir mindestens vier
Weitere Kostenlose Bücher