Selbst ist der Mensch
Nacht hört noch einmal die Schüsse: Wo in seinem Gehirn werden sie abgespielt? Wenn wir an einen verstorbenen Freund denken oder an das Haus, in dem wir früher gewohnt haben, dann beschwören wir eine Sammlung von Bildern dieser Gegenstände herauf. Sie sind weniger lebhaft als die Realität oder ein Foto. Aber erinnerte Bilder können die grundlegenden Eigenschaften des Originals aufweisen, und das so genau, dass der erfindungsreiche Kognitionsforscher und Neurowissenschaftler Steve Kosslyn die relative Größe eines erinnerten und im Geist betrachteten Objekts abschätzen konnte. 3 Wo werden die Bilder rekonstruiert, so dass wir sie in unserer Träumerei untersuchen können?
Die traditionellen Antworten ( Annahmen wäre allerdings das bessere Wort) auf diese Frage greifen auf eine konventionelle Beschreibung der Sinneswahrnehmung zurück. Danach steuern verschiedene frühe sensorische Rindenfelder (vorwiegend in den hinteren Bereichen des Gehirns) die einzelnen Bestandteile der wahrgenommenen Informationen bei und leiten sie über Nervenbahnen zu den sogenannten multimodalen Rindenfeldern (vor allem in den vorderen Bereichen), wo sie integriert werden. Wahrnehmung funktioniert demnach als Kaskade von Prozessen, die in eine Richtung verlaufen. In dieser Kaskade werden Schritt für Schritt immer stärker verfeinerte Signale entnommen – zuerst in den sensorischen Rindenfeldern einer einzigen Modalität (beispielsweise der visuellen) und später in den multimodalen Feldern, die Signale aus mehreren Modalitäten (zum Beispiel visuell, akustisch und somatisch) aufnehmen. Die Kaskade würde im Allgemeinen in caudo-rostraler Richtung (das heißt von hinten nach vorn) verlaufen und ihren Höhepunkt in den Rindenfeldern der vorderen Schläfen- und Stirnlappen finden, wo den Annahmen zufolge die am stärksten integrierten Repräsentationen der gerade laufenden multisensorischen Einschätzung der Realität stattfinden.
Diese Annahmen wurden unter dem Begriff »Großmutterzelle« auf den Punkt gebracht. Eine Großmutterzelle ist ein Neuron, das sich irgendwo fast an der Spitze der Verarbeitungskaskade (zum Beispiel im vorderen Schläfenlappen) befindet; mit seiner Aktivität würde es unsere Großmutter dann ganz und gar und ganz allein repräsentieren, wenn wir sie wahrnehmen . Solche einzelnen Zellen (oder kleinen Zellgruppen) würden während der Wahrnehmung eine vollständige Repräsentation von Objekten und Ereignissen enthalten. Und nicht nur das: Sie würden auch eine Aufzeichnung dieser wahrgenommenen Inhalte umfassen. Die Gedächtnisaufzeichnungen würden sich demnach am Ort der Großmutterzelle befinden. Und was noch großartiger wäre und eine unmittelbare Antwort auf die zuvor gestellte Frage darstellen würde: Reaktivierte Großmutterzellen würden jederzeit und ohne Abstriche den Abruf der gesamten wahrgenommenen Inhalte ermöglichen. Kurz gesagt, wäre die Aktivität dieser Neuronen die Erklärung für die Erinnerung an vielfältige, richtig integrierte Bilder, sei es nun das Gesicht unserer Großmutter oder Dick Divers Schüsse am Bahnhof. Dies wäre das Wo der Erinnerung.
Ich halte eine solche Zuordnung für unwahrscheinlich. Sie hätte zur Folge, dass Schäden an den vorderen Rindenfeldern von Schläfen- und Stirnlappen, also den vorderen Gehirnregionen, sowohl die normale Wahrnehmung als auch die normale Erinnerung verhindern. Die normale Wahrnehmung würde zusammenbrechen, weil die Neuronen, die eine vollständig integrierte Repräsentation eines zusammenhängenden Wahrnehmungserlebnisses schaffen können, nicht mehr funktionsfähig sind. Und die normale Erinnerung würde zusammenbrechen, weil die gleichen Zellen, die für die integrierte Wahrnehmung sorgen, auch integrierte Gedächtnisaufzeichnungen enthalten.
Pech für die traditionelle Sichtweise: Diese Voraussage wird auch durch die Realität der neueren psychologischen Befunde nicht gestützt. Die Wirklichkeit weicht in mehreren markanten Punkten davon ab. Patienten mit Schäden in den vorderen Gehirnarealen – Stirn- und Schläfenlappen – berichten über normale Wahrnehmung und zeigen nur selektive Defizite beim Abruf und Erkennen einzigartiger Objekte oder Ereignisse.
Solche Patienten schildern unter Umständen in allen Einzelheiten den Inhalt eines Bildes, das man ihnen zeigt: Sie benennen es korrekt als Bild von einer Feier (Geburtstag, Hochzeit), erkennen aber nicht, dass es ihre eigene Party war. Schäden in den vorderen
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