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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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komplizierter und umfassender. Als dann aber Karten möglich wurden, konnten die Organismen über formelhafte Reaktionen hinausgehen und stattdessen auf der Grundlage der reichhaltigeren Informationen reagieren, die ihnen nun mit den Karten zur Verfügung standen. Entsprechend verbesserte sich die Qualität des Lebensmanagements. An die Stelle allgemeiner Reaktionen traten solche, die auf Objekte und Situationen zugeschnitten waren, und schließlich wurden auch diese Reaktionen immer präziser. Später taten sich die dispositionsorientierten Netzwerke, die keine Karten produzierten, mit den kartenerzeugenden Netzwerken zusammen, und damit erlangten die Lebewesen ein noch flexibleres Lebensmanagement.
    Daraus ergibt sich die faszinierende Tatsache, dass das Gehirn sein altbewährtes Hilfsmittel (die Dispositionen) nicht zu Gunsten der neuen Erfindung (Karten und ihre Bilder) aufgab. Die Natur ließ nicht nur beide Systeme mit Volldampf weiterlaufen, sondern sie führte sie zusammen und nutzte so ihre Synergie. Durch die Kombination wurde das Gehirn vielseitiger, und ein solches Gehirn bekommen wir Menschen bei der Geburt mit.
    Am Menschen zeigt sich das komplizierteste Beispiel für diese gemischte, synergistische Funktionsweise, mit der wir die Welt wahrnehmen, etwas über sie lernen, uns an das Erlernte erinnern und Informationen kreativ manipulieren. Von vielen früheren biologischen Arten haben wir umfangreiche Dispositions-Netzwerke geerbt, die bei uns für die grundlegenden Mechanismen des Lebensmanagements zuständig sind. Dazu gehören die Gehirnkerne, die das Hormonsystem steuern, und jene, die den Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen dienen sowie Emotionen auslösen und ausführen. Dass diese Dispositions-Netzwerke mit vielen Kartensystemen in Kontakt kamen, die die Welt im Inneren und die Welt um uns herum abbilden sollten, war eine nützliche Neuerung. Deshalb haben die grundlegenden Mechanismen des Lebensmanagements Auswirkungen auf die Tätigkeit der Kartierungsregionen in der Großhirnrinde. Nach meiner Auffassung ist die Neuerung damit aber nicht zu Ende: Das Gehirn der Säugetiere ging noch einen Schritt weiter.
    Als die Gehirne der Menschen nun ungeheuer große Mengen aufgezeichneter Bilder schufen, fehlte ihnen der Platz zu ihrer Speicherung. Zur Lösung dieses technischen Problems griffen sie auf die Strategie der Disposition zurück. Sie schlugen zwei Fliegen mit einer Klappe: Einerseits konnten sie zahlreiche Erinnerungen auf begrenztem Raum unterbringen, andererseits bewahrten sie sich aber auch die Fähigkeit, diese Erinnerungen schnell und mit beträchtlicher Zuverlässigkeit abzurufen. Wir Menschen und unsere Säugetierverwandtschaft brauchten nie viele verschiedene Bilder auf Mikrofilm zu übertragen und in Aktenschränken aufzubewahren; wir speicherten einfach nur eine flexible Formel für ihre Rekonstruktion und bauten sie dann mit dem vorhandenen Wahrnehmungsapparat so gut wie möglich wieder auf. Wir waren immer postmodern.

Das Gedächtnis bei der Arbeit
     
    Dabei stellt sich allerdings ein Problem. Das Gehirn schafft nicht nur Karten-Repräsentationen, die zu Wahrnehmungsbildern führen, sondern ihm gelingt noch eine nicht weniger bemerkenswerte Leistung: Es schafft Erinnerungsaufzeichnungen der sensorischen Karten und spielt ihren ursprünglichen Inhalt näherungsweise wieder ab. Dieser Prozess wird als Abruf bezeichnet. Die Erinnerung an eine Person oder ein Ereignis, aber auch das Erzählen einer Geschichte erfordert den Abruf; das Erkennen von Objekten und Situationen in unserem Umfeld erfordert ebenfalls den Abruf; das Gleiche gilt für Gedanken über Objekte, mit denen wir in Wechselbeziehung getreten sind, und über Ereignisse, die wir wahrgenommen haben, ebenso der gesamten Vorstellungsapparat, mit dem wir für die Zukunft planen.
    Wenn wir verstehen wollen, wie das Gedächtnis funktioniert, müssen wir zunächst einmal wissen, wie das Gehirn eine Karte aufzeichnet und ihren Aufbewahrungsort festgelegt. Schafft es ein Faksimile des Gegenstandes, der erinnert werden soll, eine Art Kopie, die in einem Ordner gespeichert wird? Oder reduziert es das Bild auf einen Code – wird es also praktisch digitalisiert? Was? Wie? Wo?
    Es gibt noch eine andere kritische Frage nach dem Wo: Wo befindet sich die Aufzeichnung, die beim Abruf so abgespielt wird, dass man die wesentlichen Eigenschaften des ursprünglichen Bildes wieder erfassen kann? Angenommen, Dick Diver aus Zärtlich ist die

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