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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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Gehirnbereichen beeinträchtigen weder die integrierte Wahrnehmung der gesamten Szene noch die Interpretation ihrer Bedeutung. Auch die Wahrnehmung der vielen Objekte, die das Bild ausmachen, und der Abruf ihrer Bedeutung – Menschen, Stühle, Tische, Geburtstagskuchen, Kerzen, festliche Kleidung und so weiter – ist nicht beeinträchtigt. Trotz eines solchen Schadens ist also sowohl die integrierte Sicht als auch der Blick auf die Einzelteile möglich. Nur wenn Schäden an ganz anderen Stellen vorhanden sind, beeinträchtigen sie den Zugang zu abgrenzbaren Erinnerungsbestandteilen, die verschiedenen Objekten oder ihren Eigenschaften wie Farbe oder Bewegung entsprechen. Auch dieser Zugang kann gestört sein, aber nur wenn Bereiche der Großhirnrinde geschädigt sind, die weiter hinten im Gehirn in der Nähe der wichtigsten sensorischen und motorischen Regionen liegen.
    Zusammenfassend kann man sagen: Schäden der integrativen, assoziativen Rindenfelder verhindern weder eine integrierte Wahrnehmung noch die Erinnerung an die Einzelteile, die eine Gruppe bilden, noch die Erinnerung an die Bedeutung von Objekten und Eigenschaften, die nicht einzigartig sind. Solche Schäden führen nur zu einer ganz spezifischen, wichtigen Störung des Erinnerungsprozesses: Sie verhindern die Erinnerung an die Einzigartigkeit und Spezifität von Objekten und Szenen. Eine einzelne Geburtstagsparty ist auch weiterhin eine Geburtstagsparty, aber sie ist nicht mehr die spezifische Geburtstagsparty eines bestimmten Menschen mit dem zugehörigen Ort und Datum. Nur Schäden der geisterzeugenden frühen sensorischen Rindenfelder und ihrer Umgebung verhindern den Abruf von Informationen, die zuvor von diesen Rindenfeldern verarbeitet und in ihrer Nähe aufgezeichnet wurden.

Formen des Gedächtnisses: ein kurzer Exkurs
     
    Zwischen verschiedenen Gedächtnistypen kann man nicht nur anhand der Themen unterscheiden, die Gegenstand der Erinnerungen sind, sondern auch anhand des Spektrums der in einer bestimmten Erinnerungssituation repräsentierten Umstände. So betrachtet, werden mehrere traditionelle Bezeichnungen, die man häufig auf das Gedächtnis angewandt hat ( generisch versus einzigartig , semantisch versus episodisch ), der Spannbreite des Phänomens nicht gerecht. Wenn ich zum Beispiel durch einen verbalen Auslöser oder ein Foto an ein Haus erinnert werde, in dem ich früher einmal gewohnt habe, fällt mir wahrscheinlich eine Fülle von Inhalten ein, die in Beziehung zu meinen persönlichen Erfahrungen mit diesem Haus stehen. Dazu gehört die Rekonstruktion sensomotorischer Muster unterschiedlicher Modalität und Art, so dass unter Umständen sogar persönliche Gefühle wiederaufleben. Werde ich dagegen gebeten, mir eine allgemeine Vorstellung von einem Haus zu machen, taucht zwar vor meinem geistigen Auge möglicherweise dasselbe einzigartige Haus auf, aber jetzt erläutere ich das allgemeine Konzept »Haus«. Unter solchen Umständen verändert die Art der Frage also den Erinnerungsprozess. Das Ziel der zweiten Frage hemmt vermutlich das Aufleben der vielen persönlichen Einzelheiten, die für die erste eine so große Rolle gespielt haben. Statt persönlicher Erinnerungen verarbeite ich nur eine Reihe von Tatsachen, was meinen momentanen Wunsch, den Begriff »Haus« zu definieren, befriedigt.
    Der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Beispiel liegt in der Komplexität des Erinnerungsprozesses. Diese Komplexität kann man als Zahl und Vielfalt der Gegenstände messen, an die man sich in Verbindung mit einem bestimmten Zielpunkt oder Ereignis erinnert. Mit anderen Worten: Je umfangreicher der sensomotorische Kontext ist, der im Verhältnis zu einem bestimmten Gegenstand oder Ereignis wiederauflebt, desto größer ist die Komplexität. Die Erinnerung an einzigartige Gegenstände und Ereignisse, das heißt an solche, die sowohl einzigartig als auch persönlich sind, erfordert einen höchst komplexen Zusammenhang. Wir erkennen hier eine hierarchisch fortschreitende Komplexität: Die höchste Komplexität setzen einzigartig-persönliche Gegenstände und Ereignisse voraus, an zweiter Stelle stehen einzigartige, nicht persönliche Gegenstände und Ereignisse, und die geringste Komplexität erfordern Gegenstände und Ereignisse, die nicht einzigartig sind.
    Unter praktischen Gesichtspunkten ist es nützlich, wenn man sagt, man erinnere sich an einen Begriff auf einer der genannten Ebenen, beispielsweise auf der nicht einzigartigen

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