Selbst ist der Mensch
höchst komplexer Vorgang ist, braucht nicht besonders betont zu werden. Er ist das Ergebnis von Jahrmillionen biologischer Evolution, in denen Gehirnmechanismen hinzukamen und weggelassen wurden. Die Komplexität des bewussten Geistes ist mit keinem einzelnen Apparat oder Mechanismus zu erklären. Man muss die verschiedenen Teile des Bewusstseinspuzzles getrennt betrachten und sie angemessen würdigen; erst dann kann man versuchen, eine umfassende Beschreibung zu formulieren.
Dennoch ist es nützlich, mit einer allgemeinen Hypothese zu beginnen. Diese Hypothese hat zwei Teile. Der erste besagt, dass das Gehirn ein Bewusstsein konstruiert, indem es innerhalb eines wachen Geistes einen Selbst-Prozess erzeugt. Das Wesen des Selbst besteht darin, dass der Geist sich auf den materiellen Organismus konzentriert, in dem er zu Hause ist. Wachzustand und Geist sind unverzichtbare Bestandteile des Bewusstseins, sein charakteristisches Element aber ist das Selbst.
Der zweite Teil der Hypothese ist die Annahme, dass das Selbst stufenweise aufgebaut wird. Die einfachste Stufe erwächst aus jenem Gehirnteil, der den Organismus vertritt (dem Protoselbst ). Sie besteht aus einer Ansammlung von Bildern, die relativ stabile Aspekte des Körpers beschreiben und spontane Gefühle des lebenden Körpers (ursprüngliche Gefühle) erzeugen. Die zweite Stufe ergibt sich aus dem Aufbau einer Beziehung zwischen dem Organismus (wie er im Protoselbst repräsentiert ist) und jedem Teil des Gehirns, der ein zu kennendes Objekt repräsentiert. Das Ergebnis ist das Kern-Selbst. Die dritte Stufe lässt mehrere Objekte, die zuvor als erlebte Erfahrung oder vorhergesehene Zukunft aufgezeichnet wurden, mit dem Protoselbst in Wechselbeziehung treten und eine Fülle von Kern-Selbst-Pulsen erzeugen. Hieraus entsteht das autobiografische Selbst. Alle drei Stufen werden in getrennten, aber koordinierten Arbeitsbereichen des Gehirns konstruiert. Es handelt sich dabei um die Bildräume, den Spielplatz für die Einflüsse der laufenden Wahrnehmung wie auch der Dispositionen, die in den Konvergenz-Divergenz-Regionen enthalten sind.
Abb. 8.1 . Drei Stufen des Selbst
Bevor ich mehrere hypothetische Mechanismen erläutere, die zur Umsetzung der allgemeinen Arbeitshypothese notwendig sind, noch etwas Hintergrundinformation: Im Laufe der Evolution traten die ersten Selbst-Prozesse erst auf, nachdem Geist und Wachheit als Gehirntätigkeiten vorhanden waren. Die Selbst-Prozesse waren sehr effizient darin, den Geist auf die Homöostasenotwendigkeiten des Organismus auszurichten und zu organisieren. Damit steigerten sie die Überlebensaussichten. Wie nicht anders zu erwarten, wurden die Selbst-Prozesse von der natürlichen Selektion begünstigt, so dass sie sich in der Evolution durchsetzten. In den ersten Stadien erzeugten die Selbst-Prozesse vermutlich kein Bewusstsein im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern waren auf die Ebene des Protoselbst beschränkt. In späteren Evolutionsphasen erzeugten komplexere Ebenen des Selbst – das Kern-Selbst und alles, was danach kam – im Geist eine Subjektivität, so dass man nun von Bewusstsein sprechen konnte. Noch später dienten wiederum komplexere Konstruktionen dazu, zusätzliches Wissen über einzelne Organismen und ihre Umwelt zu erwerben und anzuhäufen. Dieses Wissen wurde in Erinnerungen abgelegt, die innerhalb des Gehirns angesiedelt waren; sie wurden einerseits in den Konvergenz-Divergenz-Regionen festgehalten, andererseits aber auch in Erinnerungen, die extern mit den Instrumenten der Kultur aufgezeichnet wurden. Bewusstsein im vollständigen Sinn des Wortes entstand, nachdem derartiges Wissen in Kategorien eingeteilt, in unterschiedlichen Formen (darunter eine rekursive Sprache) zu Symbolen verarbeitet sowie durch Fantasie und Vernunft manipuliert wurde.
Noch zwei weitere Kriterien sind hier von Bedeutung. Erstens erschienen die verschiedenen Verarbeitungsebenen – Geist, bewusster Geist und ein bewusster Geist, der eine Kultur hervorbringen konnte – nacheinander auf der Bildfläche. Dies sollte allerdings nicht den Eindruck entstehen lassen, dass der Geist nach dem Erwerb des Selbst seine Evolution eingestellt hätte oder dass das Selbst sich irgendwann nicht mehr weiterentwickelte. Im Gegenteil: Der Evolutionsprozess setzte (und setzt) sich fort, möglicherweise angereichert und beschleunigt durch den Druck, der sich aus dem Wissen des Selbst ergibt; ein Ende ist nicht in Sicht. Die derzeitige
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