Selbst ist der Mensch
durch Reflexion gesteuert werden und dazu dienen, Situationen gedanklich vorwegzunehmen, mögliche Folgen vorherzusehen, sich in der möglichen Zukunft zu orientieren und praktische Lösungen zu erfinden .
Das Bewusstsein versetzte den Organismus in die Lage, seiner eigenen Notlage gewahr zu werden. Der Organismus hatte nicht mehr nur Gefühle, die zu fühlen waren, sondern er konnte seine Gefühle auch in einem ganz bestimmten Zusammenhang kennen . Das Kennen im Gegensatz zu Sein und Tun war ein entscheidender Umschwung.
Bevor das Selbst und das normale Bewusstsein auf der Bildfläche erschienen, hatten die Organismen bereits einen Apparat für die Lebenssteuerung perfektioniert, auf dem dann das Bewusstsein aufgebaut wurde. Bevor einige einschlägige Voraussetzungen im bewussten Geist bekannt werden konnten, waren diese Voraussetzungen bereits vorhanden, und um sie herum hatte der Apparat der Lebenssteuerung seine Evolution durchgemacht. Der Unterschied zwischen der Lebenssteuerung vor und nach Auftauchen des Bewusstseins bestand einfach in automatischem beziehungsweise überlegtem Handeln. Bevor es das Bewusstsein gab, lief die Lebenssteuerung völlig automatisch ab; danach behielt sie ihre Automatismen bei, geriet aber nach und nach unter den Einfluss von auf das Selbst bezogenen Überlegungen.
Die Grundlagen für den Bewusstseinsprozess sind also die unbewussten Prozesse, die für die Lebenssteuerung sorgen: blinde Dispositionen, die Stoffwechselfunktionen regulieren und in den Zentren des Gehirnstamms sowie im Hypothalamus untergebracht sind, Dispositionen, die Belohnungen und Bestrafungen verteilen und Triebe, Motivation und Emotionen antreiben, und der Kartierapparat, der in Wahrnehmung und Erinnerung Bilder erzeugt und solche Bilder in dem Kino, das wir als Geist bezeichnen, auswählen und bearbeiten kann. Das Bewusstsein ist im Lebensmanagement ein Nachzügler, aber es bringt das ganze Spiel noch ein Stück weiter voran. Klugerweise rührt es nicht an den alten Tricks und lässt sie die einfachen Arbeiten ausführen.
Das Freud’sche Unbewusste
Freuds interessantester Beitrag zur Bewusstseinsforschung findet sich in seinem allerletzten Aufsatz, den er in der zweiten Hälfte des Jahres 1938 verfasste und bei seinem Tod unvollendet hinterließ. 7 Ich las den Artikel erst kürzlich, angeregt durch die Einladung, einen Vortrag über das Thema »Freud und die Neurowissenschaft« zu halten. Es war eine jener Anfragen, die man energisch ablehnen sollte, aber ich ließ mich in Versuchung führen und sagte zu. Anschließend sah ich wochenlang Freuds Schriften durch, wobei ich wie jedes Mal, wenn ich Freud lese, zwischen Irritation und Bewunderung schwankte. Am Ende der Plackerei stand dieser letzte Aufsatz, den Freud in London auf Englisch geschrieben hatte. In ihm nimmt er in der Frage des Bewusstseins den einzigen Standpunkt ein, den ich plausibel finde. Der Geist ist ein ganz natürliches Ergebnis der Evolution, und er ist zum größten Teil unbewusst, innerlich und verborgen. Bekannt wird er uns durch das schmale Fenster des Bewusstseins. Genau so sehe ich es auch. Bewusstsein schafft die Möglichkeit, den Geist unmittelbar zu erleben, aber der Vermittler dieses Erlebnisses ist ein Selbst, und das ist kein äußerer, zuverlässiger Beobachter, sondern ein innerer, unvollkommen konstruierter Informant. Das Gehirn-Sein des Geistes kann weder der natürliche innere Beobachter noch der von außen beobachtende Wissenschaftler unmittelbar sehen. Man muss es sich in einer vierten Perspektive vorstellen und aufgrund dieser imaginären Sichtweise Hypothesen formulieren. Auf der Grundlage der Hypothesen muss man Voraussagen machen, und um sich ihnen zu nähern, braucht man dann ein Forschungsprogramm.
Freuds Ansichten über das Unbewusste waren zwar von der Sexualität beherrscht, er war sich aber des ungeheuren Geltungsbereiches und der Leistungsfähigkeit geistiger Prozesse, die unter der Oberfläche des Bewusstseins ablaufen, durchaus bewusst. Damit war er übrigens nicht der Einzige: Die Vorstellung von unbewussten Verarbeitungsvorgängen war unter Psychologen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sehr beliebt. Auch mit seinen Streifzügen im Bereich der Sexualität, deren wissenschaftliche Erforschung zu jener Zeit begann, war Freud nicht allein. 8
Eine Fülle von Anhaltspunkten über das Unbewusste verschaffte Freud sich sicher dadurch, dass er sich auf Träume konzentrierte. Dieser Schachzug war
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