Selbst ist der Mensch
seinen Zwecken sehr dienlich, lieferte er ihm doch Material für seine Untersuchungen. Die gleiche Quelle wurde auch von Künstlern, Komponisten, Schriftstellern und allen möglichen anderen Kreativen angezapft, die nach neuen Bildern suchten und sich dazu von den Fesseln des Bewusstseins befreien wollten. Hier kommt ein höchst interessantes Spannungsverhältnis ins Spiel: Kreative mit scharfem Bewusstsein suchen bewusst das Unbewusste als Quelle und gelegentlich auch als Methode für ihre bewussten Vorhaben. Dies widerspricht in keiner Weise dem Gedanken, Kreativität könne ohne Bewusstsein nicht begonnen und erst recht keine Blüte erlebt haben. Es unterstreicht nur, wie bemerkenswert und gemischt und flexibel unser Geistesleben ist.
Die Vernunft ist in Träumen, gelinde gesagt, stark gelockert. Dies gilt für angenehme Träume ebenso wie für Albträume. Das Kausalitätsprinzip bleibt zwar oftmals erhalten, die Fantasie gerät aber außer Rand und Band, und die Realität spielt keine Rolle. Dennoch bieten Träume unmittelbare Anhaltspunkte für geistige Prozesse, die nicht vom normalen Bewusstsein unterstützt werden. Im Traum werden unbewusste Verarbeitungsprozesse von beträchtlicher Tiefe angezapft. Wer diese Erkenntnis nur widerwillig akzeptiert, lässt sich vielleicht am ehesten von Fällen überzeugen, in denen Träume von Themen der einfachen Lebenssteuerung handeln. Ein Beispiel: Man träumt in allen Einzelheiten von kaltem Wasser und Durst, nachdem man ein sehr salziges Abendessen zu sich genommen hat. »Moment mal!«, höre ich den Leser schon sagen, »was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, der träumende Geist werde ›nicht vom normalen Bewusstsein unterstützt‹!? War ein Traum, an den man sich erinnern kann, kein bewusster Vorgang?« Nun, in vielen Fällen ist es tatsächlich so. Während der Träume läuft eine Art Bewusstsein ab, das nicht dem Üblichen entspricht, und es gibt sicher einen Prozess des Selbst, der sie ermöglicht. Mir geht es aber um Folgendes: Der im Traum abgebildete Fantasieprozess wird nicht von einem normalen, richtig funktionierenden Selbst gelenkt, wie wir es einsetzen, wenn wir nachdenken und abwägen. (Eine Ausnahme ist das sogenannte bewusste Träumen, in dem es einem geübten Träumenden gelingt, bis zu einem gewissen Grad selbst Regie über den Traum zu führen.) Unser Geist, der bewusste wie der unbewusste, wird vermutlich von der Außenwelt, deren Einflüsse bei der Organisation von Inhalten helfen, auf Trab gehalten. Wäre dieser äußere Schrittmacher nicht vorhanden, könnte der Geist ohne Weiteres träumerisch abschweifen. 9
Die Erinnerung an Träume ist ein heikles Thema. Wir träumen in großem Umfang und mehrmals jede Nacht, wenn wir uns im REM-Schlaf (REM = rapid eye movement , schnelle Augenbewegungen) befinden, und wir träumen sogar – allerdings weniger – während des so genannten Nicht-REM-ODER N-REM-Schlafs, der durch langsame Gehirnwellen gekennzeichnet ist. Am besten erinnern wir uns aber offenbar an Träume, die kurz vor der Wiederkehr des Bewusstseins ablaufen, also kurz bevor wir mehr oder weniger allmählich an die Oberfläche zurückkehren.
Ich gebe mir große Mühe, mich an meine Träume zu erinnern, aber wenn ich sie nicht aufschreibe, verschwinden sie spurlos, und das war schon immer so. Verwunderlich ist es nicht: Wenn wir aufwachen, ist der Apparat für die Konsolidierung von Erinnerungen noch kaum aktiv – ganz ähnlich wie der Ofen einer Bäckerei im Morgengrauen.
Nur an eine Art von Träumen erinnerte ich mich ein wenig besser, vielleicht weil ich sie so häufig durchlebt habe: Es handelt sich um einen immer wiederkehrenden leichten Albtraum, der sich in der Nacht einstellt, wenn ich am nächsten Tag einen Vortrag halten soll. Seine verschiedenen Varianten haben immer den gleichen Kern: Ich habe mich entsetzlich verspätet, und irgendetwas Unentbehrliches fehlt. Meine Schuhe sind weg, oder die morgendlichen Bartstoppeln haben sich in einen Zweitagebart verwandelt, und ich kann den Rasierapparat nicht finden, oder der Flughafen wurde wegen Nebels geschlossen, und ich kann nicht abfliegen. Es quält mich, und manchmal ist es mir peinlich, beispielsweise wenn ich (natürlich im Traum) barfuß (aber im Armani-Anzug) an das Rednerpult trete. Deshalb stelle ich meine Schuhe bis heute nie im Hotel zum Putzen vor die Tür.
8. Ein bewusster Geist wird aufgebaut
Eine Arbeitshypothese
Dass der Aufbau eines bewussten Geistes ein
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