Selbstmord der Engel
selbst.
Das würde sie bald genauer wissen, wenn das Vogelmädchen wieder zu Hause eingetroffen war.
Immer öfter schaute sie auf ihre Uhr. Die Zeit verging normal, ihr kam sie nur langsamer vor. Der Druck in ihrer Brust verstärkte sich. Trotz des leicht frischen Nachtwinds schwitzte sie, sodass der kalte Schweiß auf der Haut klebte.
Wann kam sie?
Maxine war versucht, Carlotta anzurufen. Dann gestand sie sich ein, dass dies Unsinn war. Sie wollte abwarten, bis das Vogelmädchen erschien und erst dann entscheiden.
Der Blick in die Höhe.
Immer wieder, immer öfter. Er gab ihr keine Antwort. Er blieb so hoch und so blank. Unzählige Meilen weit waren die Sterne entfernt und sahen doch so nah aus.
Die Nervosität stieg noch an, als sie von der Vorderseite des Hauses ein Geräusch hörte. Dort rollte ein Fahrzeug entlang, das nicht stoppte.
»Meine Güte, reiß dich zusammen!«, flüsterte sie sich selbst zu. »Du bist erwachsen und kein Kind mehr...«
Sie schritt über den Rasen. Dachte daran, dass sie das Gras wieder schneiden musste. Im nächsten Augenblick kümmerte sie sich gedanklich um die Engel.
Warum hatte sich die Gestalt von der Klippe fallen lassen? Warum dieser Suizid?
Sie fand keine Lösung. Die Dinge drehten sich im Kreis. Außerdem wusste sie zu wenig über die Engel, über ihr Werden, über ihr Verhalten und über ihr Sterben.
Das letzte Wort bereitete ihr Probleme. Konnten Engel überhaupt sterben?
Sie war sich nicht sicher. Maxine wusste auch nicht, wie sie den Begriff Engel definieren sollte. Waren es Geistwesen, die auch mal eine menschliche Gestalt annehmen konnten, wie hin und wieder geschrieben wurde? Hatten sie alle Flügel, oder waren ihnen diese nur durch die Fantasie der Menschen angedichtet worden?
Fragen über Fragen. Antworten darauf musste sie schuldig bleiben. Sie kannte sich in der Materie nicht genügend aus und hoffte, dass sich dies änderte, denn sie wollte mehr über die Geheimnisse der Welt erfahren und nicht nur über deren sichtbare.
Es gab keine Bewegung in der Luft über ihr. Die Vögel hatten sich längst in ihren Baumverstecken zur Ruhe gelegt. Erst bei Anbruch des Tages würden sie wieder erwachen. Bis dahin allerdings konnte so viel noch geschehen sein.
Maxine Wells stand etwa in der Mitte des großen Rasenstücks, als die Stille unterbrochen wurde. In der Dunkelheit über ihrem Kopf entstand ein Brausen, als würde der Wind in kurzen Stößen darüber hinwegwehen. Die Tierärztin legte den Kopf zurück, und zum ersten Mal seit längerer Zeit wurde ihr starrer Gesichtsausdruck durch ein erleichtertes Lächeln ersetzt.
Carlotta kehrte zurück!
Sie schwebte heran. Sie war nicht schnell, denn sie musste sich auf die Landung vorbereiten. Auf ihren vorgestreckten Armen lag eine Gestalt, und Maxine wurde klar, dass das, was Carlotta gesagt hatte, wirklich den Tatsachen entsprach. Bisher hatte Maxine geglaubt, es noch etwas abwiegeln zu können. Nun nicht mehr.
Carlotta musste sie gesehen haben, winkte ihr aber nicht zu, weil die Arme besetzt waren. Wieder zeigte sie, dass sie es verstand, die Bewegungen zu kontrollieren, denn sie sank langsam dem Erdboden entgegen und setzte so zu einer weichen Landung an.
Es sah aus wie bei einem Fallschirmspringer. Sie berührte den Boden, lief noch einige Schritte weiter und blieb stehen. Ihre »Beute« hielt sie noch immer fest, und sie schaute Maxine fragend an.
»Gut, dass du es geschafft hast. Ich hatte mir schon die größten Sorgen gemacht.«
»Das war doch kein Problem.«
»Ja, das sagst du. Aber versetz’ dich mal in meine Lage.« Maxine schüttelte den Kopf. Dabei lachte sie jedoch und sagte: »Komm ins Haus, wir legen die Tote auf den Behandlungstisch in meiner Praxis.«
»Das wollte ich soeben vorschlagen.«
»Soll ich dir die Leiche abnehmen?«
»Nein, nicht nötig, Max, das schaffe ich locker.«
»Dann ist es gut.«
Die Tierärztin ging vor. Carlotta blieb ihr auf den Fersen. Wenig später fanden sich die Frau und das Vogelmädchen im Behandlungszimmer, wo Maxine das Licht einschaltete.
Sie hatte die beiden Strahler erhellt, die von der Decke her ihr Licht auf den Behandlungstisch in der Mitte des Raumes schleuderten. Auch jetzt ließ sich Carlotta nicht helfen. Sie allein legte die Tote auf die Unterlage.
»Ja, das ist der Engel!«, kommentierte Carlotta und strich ihr Haar zurück. Die fein geschnittenen Gesichtszüge zeigten einen ernsten Ausdruck, und die Lippen hielt sie geschlossen.
»Sie
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