Selbstmord der Engel
ist tot? Da bist du dir sicher?«
»Ja, das bin ich.«
»Okay.« Maxine trat näher an die Tote heran, die den Oberkörper nicht bedeckt hatte und nur einen weiten pumpigen Rock trug. Sie wusste ja, was mit dieser Person geschehen war. Sie hatte sich von den Klippen gestürzt, doch seltsamerweise war ihr Gesicht davon nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Es sah völlig normal aus und hatte einen mädchenhaften Ausdruck. Nur der Mund war etwas verzogen oder verzerrt. Unter dem Rücken breiteten sich die Flügel aus. Nach ihnen fasste Maxine zuerst.
Als Fachfrau merkte sie sofort, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. »Sie sind gebrochen.«
»Ja, beim Aufprall.«
»Und die übrigen Knochen?«
Carlotta hob die Schultern. »Die auch, Max. Ich habe sie fühlen können. Die Wucht hat sie brutal zerstört. Ich weiß, dass es grausam klingt, aber ich kann es nicht ändern.«
»Ja, sie hat es so gewollt.«
»Eben.«
Maxine legte beide Hände gegen die Wangen der leblosen Gestalt. Unter ihren Fingern spürte sie die Haut und erschauerte. Sie war nicht warm und nicht kalt, sie war einfach nur neutral. Allerdings nahm sie erst jetzt wahr, dass sich der Kopf in einem anderen Winkel zum Körper befand, und das ließ den Schluss zu, dass sich dieser Engel beim Aufprall das Genick gebrochen hatte, ohne dass sein Gesicht selbst in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Schmale Schultern. Ein insgesamt schmaler Körper mit sehr kleinen Brüsten. Als Maxine in Höhe des Bauchs Druck ausübte, spürte sie kaum einen Widerstand. Für sie war es der Beweis, dass die Knochen tatsächlich gebrochen waren. Auch war ihr das leise Schaben oder Knirschen nicht entgangen.
Carlotta hatte sich auf einen Stuhl gesetzt. Sie saß dort wie auf der Arme-Sünder-Bank. »Ich hätte sie so gern gerettet, doch sie hat mir keine Chance gelassen. Nicht die geringste. Sie hat sich genau die Stelle ausgesucht, die am tiefsten ist, denn sie wollte sichergehen, dass sie nicht überlebte.«
»Mach dir keine Vorwürfe«, tröstete Maxine sie. »Ich weiß, dass du alles versucht hast, aber man kann das Schicksal nicht immer in seine Richtung lenken.«
»Ich weiß.«
Maxine strich noch einmal über die Haut hinweg und fragte mehr zu sich gewandt: »Ist das wirklich ein Engel?«
»Sie hat Flügel.«
»Die hast du auch, Carlotta.«
»Aber sie ist anders als ich.«
»Das stimmt.«
»Hätte ich sie nicht mitbringen sollen?«
Maxine schüttelte den Kopf. »Was du getan hast, ist genau richtig gewesen, Kind. Es war gut so, wirklich. Aber wir werden uns überlegen müssen, was nun mit ihr geschieht.«
»Wir sollten sie begraben.«
»Nein, das denke ich nicht. Diese Person ist ein Rätsel. Sie ist kein normaler Mensch, wir können sie nicht einfach in ein Grab legen. So etwas ist unmöglich.«
»Willst du sie hier lassen?«
Maxine dachte nach. Sie runzelte dabei die Stirn. »Ich weiß noch nicht, was ich mit ihr tun soll. Jedenfalls ist sie kein normaler Mensch. Man kann sie durchaus als ein Rätsel ansehen, und das müssen wir zu lösen versuchen.«
»Wie denn?«
Die Tierärztin lächelte etwas verloren. »Das ist natürlich die große Frage, die sehr große sogar. Wenn ich ehrlich sein soll, fühle ich mich selbst überfragt. Ich will nicht eben von einer gewissen Hilflosigkeit sprechen, aber ich kenne mich bei Engeln nicht aus, wenn wir davon ausgehen, dass diese Person wirklich ein Engel ist, der sich, aus welchen Gründen auch immer, zu Tode gestürzt hat. Da brauchten wir einen Experten, der sich besser mit Engeln auskennt.«
Carlotta lächelte vor sich hin. »Ich wüsste einen.«
Maxine nickte. »Ich ebenfalls.«
»John Sinclair.«
»Ja.« Die Tierärztin schaute auf die Tote, ohne sie wirklich richtig zu sehen. »Ich möchte John zwar nicht als Engelexperten bezeichnen, aber er ist jemand, der schon öfter mit diesen Wesen zu tun gehabt hat. Er kennt ihre Vor- und Nachteile. Er weiß, welche Hierarchien aufgebaut worden sind. Er kann sie in gut und böse aufteilen, denn auch unter ihnen gibt es Kämpfe. Deshalb sollten wir ihm auch Bescheid geben.«
»Wann?«
»So schnell wie möglich.«
»Also jetzt?«
»Ich denke schon. Es ist mir auch egal, dass wir schon Nacht haben. John muss einfach davon erfahren. Vielleicht kann er ja kommen und sich den toten Engel anschauen.«
»Das wäre, nicht schlecht. Dann müssten wir ihn noch bis morgen hier behalten.«
»Wir lassen ihn hier liegen. Es ist kühl und...«
»Ich gehe dann schon
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