Selbstmord der Engel
oben. »Dass ein Mensch aus der Luft gefallen und hier auf dem Boot gelandet ist.«
»Sie sehen es.«
»Und Sie waren Zeugen?«
»Ja.«
Der Mann schaute sich die Gestalt noch genauer an und fragte danach mit wesentlich leiserer Stimme: »Ist das überhaupt ein Mensch?«
»Sie fragen wegen der Flügel?«
»Klar.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
Der Mann straffte sich und erklärte, dass er als Kapitän auch die Verantwortung trüge. Sein Name war Harold Thompson.
Ich stellte Glenda und mich vor. Bevor der Kapitän fragen konnte, fügte ich meinen Beruf hinzu und sagte auch den Namen der Firma, von der ich kam.
»Scotland Yard? Ha – ist das Zufall, dass Sie sich auf meinem Schiff aufgehalten haben?«
»Genau, Mr. Thompson, denn auch wir haben mal Feierabend. Die Fahrt ist ja nun mal ein echtes Highlight.«
»Jetzt nicht mehr, Mr. Sinclair. Ich verstehe das auch alles nicht, wenn ich ehrlich bin.« Er deutete auf die Gestalt. »Das ist doch kein Mensch«, flüsterte er und blickte uns dabei an, weil er die Antwort haben wollte. »Das kann ich nicht glauben. Der... der... hat doch Flügel. Welcher Mensch hat schon Flügel? Ich kenne keinen, verdammt. Menschen mit Flügeln gibt es nicht. Es sei denn, er ist wahnsinnig. Da gab es mal einen im Altertum, der hat sich Flügel gebaut, um fliegen zu können. Dann ist er auch abgestürzt wie der hier.«
»Ja, so ähnlich«, sagte ich.
Der Kapitän nahm die Mütze ab. Schütteres Haar kam zum Vorschein, über das er strich. Er konnte gut ein Schiff führen, doch jetzt war er überfragt und wandte sich deshalb an uns.
»Wie geht es denn weiter? Ich möchte die Fahrt auf keinen Fall mit einem Toten an Deck fortsetzen.«
»Das brauchen Sie auch nicht. Aber in die Themse können wir die Leiche auch nicht werfen. Steuern Sie bitte die nächstgelegene Anlegestelle an, und ich werde in der Zwischenzeit meine Kollegen anrufen, die dort warten. Sorgen Sie auch dafür, dass die Gäste das Schiff verlassen. Als Zeugen benötige ich sie nicht. Was hier zu tun ist, das übernehme ich. Ansonsten sind Sie der Boss an Bord.«
Thompson winkte ab. »Darauf könnte ich gut und gerne verzichten.«
»Kann ich mir denken.«
Er setzte seine Mütze wieder auf. »Okay, dann gehe ich jetzt zu meinem Platz.«
Er verschwand und bewegte sich dabei längst nicht mehr so forsch wie beim Herkommen. Der Schock musste ihm in die Glieder gefahren sein. Kein Wunder, denn ein derartiges Ereignis erlebt man nicht jeden Tag.
Auch Glenda stand neben mir und schaute ins Leere. Sie war in Gedanken versunken, die sicherlich nicht besonders positiv sein konnten.
Als ich in ihre Nähe geriet, schaute sie hoch. »Ich denke, John, dass wir noch einiges erleben werden. Das ist nur der Anfang. Ein Engel, der sich selbst umbringt. Kannst du dir vorstellen, was dahinter steckt?«
»Nein, noch nicht. Ich denke allerdings, dass es vermutlich eine verdammt starke Macht ist, die sich dort ausgebreitet hat. Sie schafft es, die Engel so zu manipulieren, dass sie sich selbst umbringen. Damit muss man erst mal fertig werden.«
»Hast du eine Ahnung, wer dahinter stecken könnte?«
»Überhaupt nicht.«
»Ich frage mich, wer ein Feind der Engel ist und dabei noch die Macht besitzt, sie in den Tod zu treiben.«
Es war klar, dass Glenda von mir eine Antwort erwartete. Ich hätte ihr auch eine geben können, denn ich kannte einige Dämonen, die auch mächtig genug waren, Engel zu diesen Selbstmorden zu zwingen. Ich wollte keine Namen nennen, um unnötige Spekulationen zu vermeiden.
Das Schiff hatte wieder Fahrt aufgenommen. Weil es so still geworden war, hörten wir die Motoren deutlicher. Es gab auch niemanden, der ein Wort sprach. Wenn doch, dann wurde nur im Flüsterton geredet. Vorbei war es mit der Musik, mit dem Tanz. Es gab keine Party mehr. Wir fuhren mittlerweile auf einem Geisterschiff dahin.
Ich holte das Handy hervor, um beim Yard anzurufen. Ich schaltete es ein, als Glenda plötzlich einen leisen Ruf ausstieß und den rechten Arm ausstreckte.
Der Zeigefinger wies auf den toten Engel. Der war dabei, sich zu verändern...
***
Maxine Wells traute ihren Augen nicht. Sie schaffte es auch nicht, sich zu bewegen, und so schaute sie vom Nebenzimmer her zu, wie sich der Engel veränderte.
Mit dem Rücken lag er auf dem Tisch. Es steckte keine Kraft in ihm, die ihn herumgeworfen hätte, sodass er auf dem Bauch zu liegen kam. Er blieb in seiner Position liegen, aber er sah aus, als wäre er in der
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