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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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entsprechendes Gesicht zusammenzubasteln, das, wenn es schon nicht zur allgemeinen Beschwingtheit beitrug, sie wenigstens nicht durch Teilnahmslosigkeit verhinderte.
    Mit Einbruch der Nacht ließ dein Leiden nach. Die Möglichkeit eines Glücksempfindens begann im Winter um fünf Uhr, im Sommer entsprechend später.
    Du hast dich gewundert, wie deine Bewusstseinszustände so schwanken konnten, ohne dass deine Umgebung davon Kenntnis nahm. Es kam vor, dass du jemandem gestandst, während eines gemeinsamen Monate zurückliegenden Abendessens tief deprimiert gewesen zu sein. Verblüfft entdeckte dieser seine Blindheit wie eine Zeitbombe. Und dein Gesicht bewahrte, dir selber treu, seinen unbewegten Ausdruck.
    Du warst so perfektionistisch, dass du noch die Vervollkommnung einer Sache vervollkommnen wolltest. Aber woran misst man, wann Vollkommenheit erreicht ist? Warum nicht noch ein Detail verändern? Und dann kam der zweifelhafte Moment, da du die beigebrachten Verbesserungen nicht mehr bewerten konntest: Dein Hang zur Perfektion begann an Wahnsinn zu grenzen. Du verlorst deine Maßstäbe und arbeitetest im Nichts weiter, inmitten von vagen und widersprüchlichen Visionen. Du hattest keine Schwierigkeiten mit dem Anfangen und dem Fortführen, dafür aber mit dem Aufhören. Denn Aufhören erforderte die Entscheidung, dass ein Projekt nicht ohne Einbußen weiter überarbeitet werden konnte und dass jeglicher Zusatz es eher verschlechtern als verbessern würde. Manchmal zermürbte dich die Verbesserung der Verbesserungen so, dass du die Arbeit einfach aufgabst und sie weder vernichtetest noch zu Ende brachtest. Ein Blick auf diese unvollendet aufgegebenen Projekte hätte dir versichern können: Du hattest durchaus gearbeitet, auch wenn in deinem Archiv nur Ergebnisse aus früheren Zeiten zu finden waren. Dich aber beunruhigte all das: Konkret, wie du warst, wolltest du das Produzierte auch funktionieren sehen. In deinem Sinn für Verkürzung hast du statt den begonnenen Dingen dir selbst ein Ende gesetzt.
    Du warst ein virtuoser Schlagzeuger. Als Teenager hast du in drei Rockbands gespielt: Les Atomes, Krise 17 und Dragonfly. Du hast auch gesungen, und die Texte der Lieder, die ihr vor ein paar Freunden in Partyräumen oder elterlichen Kellern spieltet, stammten von dir. Die Bands hatten sich getrennt, wenn Mitglieder die Schule verließen oder mit ihren Eltern umzogen. Du warst derjenige gewesen, der zurückblieb, und hattest aufgehört, in Gruppen zu spielen. Du machtest allein im Keller eures Hauses weiter und begleitetest Musik, die aus einem mächtigen Verstärker drang, oder interpretiertest Solos, die Stunden dauern konnten. Am Ende warst du erschöpft und gleichzeitig überdreht, wie nach einem langen Trancezustand. Einige Jahre später, als du zweiundzwanzig warst, nahm Damien, der Gitarrist von Dragonfly, noch einmal Kontakt mit dir auf. Er bot dir an, den Schlagzeuger zu ersetzen, der bei einem Konzert seiner neuen Band Lucide Lucinda in Bordeaux nicht mitspielen konnte. Als du dein Zugticket reserviertest, entschiedst du dich, drei Tage zu bleiben, um bei dieser Gelegenheit die dir unbekannte Stadt kennenzulernen. Das Konzert fand am Abend deiner Ankunft in einem Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst statt, anlässlich einer Vernissage von Damien, der Künstler geworden war. Eine Menge junger Kunst- und Musikinteressierter waren gekommen. Während der Probe hattest du festgestellt, dass du nichts von deiner Fähigkeit, in einer Band zu spielen, verloren hattest. Die Musik von Lucide Lucinda war einfach und eindringlich wie der englische Rock der sechziger Jahre, auf den die Gruppe Bezug nahm. Nach dem Konzert gingst du mit den Musikern und ihren Freunden durch die Ausstellung. Du verbrachtest einen Teil des Abends mit einer jungen polnischen Künstlerin, die groß, schlank und blond war und riesige stein- oder organähnliche Skulpturen ausstellte. Sie waren aus Bruchstücken von Plastikmineralwasserflaschen zusammengesetzt. Du wundertest dich, wie ihre feinen Hände eine solch monumentale Arbeit hatten ausführen können. Die Oberseiten waren unversehrt, aber als sie die Hand ausstreckte, um dir ein Detail an einer ihrer Skulpturen zu zeigen, entdecktest du Narben an der Handinnenfläche und an zwei Fingern. Ihrer geduldigen Arbeit des Zusammenfügens war es gelungen, durch die Anhäufung von kleinen Teilen völlig maßlose Objekte herzustellen. Du erkanntest eine Analogie zu deinen einsamen Sessions:

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