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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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Bewegung sehen, der den anderen in ihrer Eile und ihrer Fixierung aufs Detail entging. Als du einmal in einer kleinen Provinzstadt von deinem höher gelegenen Hotelzimmer aus auf einen Markt blicktest, erkanntest du, dass die Menge, die diesen bevölkerte, ein Dreieck bildete, das sich mit immer wiederkehrenden Wellenbewegungen aufblies und wieder schrumpfte. Unnütze Beobachtung? Sinnlose Wissenschaft? Dein Denken hielt solch willkürliche Dinge nicht für wertlos.
    Wenn du deinem Spiegel glücklich oder sorglos gegenüberstandst, warst du jemand. Unglücklich warst du niemand mehr: Die Linien in deinem Gesicht verschwanden, du erkanntest zwar wieder, was dich die Gewohnheit »ich« nennen ließ, aber du sahst einen anderen dich anschauen. Dein Blick schweifte über dein Gesicht, als sei es aus Luft: Die Augen deines Gegenübers waren unergründlich. Auch der Versuch, deine Züge mit einem Augenzwinkern oder einer Grimasse zu beleben, half nicht. Grundlos, wie er war, blieb der Ausdruck künstlich. Du begannst daraufhin, Gespräche mit erfundenen Dritten zu mimen. Du glaubtest, verrückt zu werden, bis die Lächerlichkeit der Situation dich schließlich zum Lachen brachte. Die Tatsache, Figuren eines Sketches zu spielen, ließ dich wieder aufleben. Indem du andere verkörpertest, wurdest du wieder du selbst. Deine Augen konnten wieder auf sich selber ruhen, und wenn du in den Spiegel blicktest, war es dir wieder möglich, deinen Namen auszusprechen, ohne dass er dir ein abstraktes Wort schien.
    Ob wahr oder falsch – du hast an das geschriebene Wort geglaubt. Handelte es sich um Lügen, so waren ihre Spuren Beweise, die man eines Tages gegen ihre Autoren verwenden konnte, die Wahrheit war also nur aufgeschoben. Im Übrigen sprechen Lügner eher, als dass sie schreiben. Ob dokumentiert oder erfunden, in den Büchern erschien dir das Leben wirklicher als jenes, das du rings um dich herum hörtest und sahst. Beim Betrachten des realen Lebens warst du allein. Und wenn du dich daran erinnertest, wurde es durch die Lückenhaftigkeit deines Gedächtnisses verkürzt. Das Leben in Büchern dagegen war von anderen erfunden worden: Was du last, war die Überlagerung zweier Wahrnehmungen, deiner eigenen und der des Autors. Du zweifeltest an dem, was du sahst, aber nicht an dem, was andere erfanden. Das wirkliche Leben musstest du in seinem kontinuierlichen Fluss hinnehmen, den Verlauf des erfundenen hingegen konntest du kontrollieren, indem du ihm deinen eigenen Rhythmus diktiertest: Du konntest es anhalten, beschleunigen oder verlangsamen, zurückspringen oder in die Zukunft blättern. Als Leser hattest du die Macht eines Gottes: Die Zeit war in deinen Händen. Gesprochene Worte dagegen, und waren es auch die treffendsten, strichen vorbei wie der Wind. Sie hinterließen zwar Spuren in deinem Gedächtnis, aber wenn du versuchtest, sie zu vergegenwärtigen, zweifeltest du an ihrer Existenz. Gabst du sie wirklich so wieder, wie sie formuliert worden waren, oder verändertest du sie nach deiner Fasson?
    Eines Abends warst du mit anderen bei Freunden zum Essen eingeladen. Als der Gastgeber dich beim Öffnen der Tür fragte, wie es dir ginge, hast du geantwortet: »Schlecht.« In seiner Verwirrung wusste er nicht, was er sagen sollte, zumal du schon in der Tür standst und nach deinem Klingeln ein enthusiastisches und ungeduldiges »Aaah« von allen im Wohnzimmer versammelten Gästen durch die Wand gedrungen war. Ihr konntet schlecht ein kurzes Gespräch über dein Leiden beginnen, aber genauso wenig konntet ihr die anderen warten lassen, ohne zu riskieren, Erklärungen abgeben zu müssen, die umso peinlicher gewesen wären, als sie sich an eine Gruppe von Freunden gerichtet hätten, die zusammengekommen waren, um einen heiteren Abend zu verbringen. Du wolltest die Party nicht stören, aber du konntest dich auch nicht entschließen zu lügen, als du auf die simple Frage »Wie geht’s?« Antwort gabst. Du warst eben mehr ehrlich als höflich. Obwohl du dazu fähig gewesen wärst, schien es dir unaufrichtig, gegenüber einem engen Freund die Komödie des »Alles bestens« zu spielen. Als du das Wohnzimmer erreichtest, wolltest du nicht noch einmal dieselbe Irritation auslösen. Den Freunden deines Freundes, darunter einigen Unbekannten, hast du eine liebenswürdige Oberfläche präsentiert. Du hast über dich selbst gestaunt, wie es dir in dieser Atmosphäre, in der du dich wie ein Fremder fühltest, gelang, ein den Umständen

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