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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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die Quadersteine der Fassade. Du durchquertest die Staubwolke, die der Wind auf Eingangstür und benachbartem Rasen verteilte. Im Inneren des Gebäudes zeugten nur zwei Wächter und der Kassenangestellte von menschlicher Anwesenheit. Du streiftest durch die Räume, wo sich alte Gemälde von italienischen, französischen, englischen, flämischen und deutschen Schulen aneinanderreihten. Trotz der Qualität einiger Bilder schautest du sie nur zerstreut an. Du hattest den Eindruck, dieses Museum schon dutzendfach in anderen Städten gesehen zu haben. Die religiöse und mythologische Malerei verwies auf eine Vergangenheit, die dir vertraut war und keinerlei Überraschung bot. In Provinzmuseen suchtest du eher nach ausgefallenen Bildern unbedeutender, regionaler Künstler, deren zweitrangige Sujets oder ungeschickte Ausführung gerade ihre Originalität ausmachten. Dem vor dir befindlichen Bild hätte man eine solche kaum nachsagen können, hätte es nicht ein monumentales Panorama von den Quais der Garonne gezeigt. Das Bild beschrieb in unzähligen Details die Betriebsamkeit rund um Handel und Schifffahrt, die sich über mehrere Kilometer erstreckte. Dutzende von Figuren, die sich im Verhältnis zum gezeigten Raum winzig ausnahmen, belebten Szenen, in denen alle sozialen Schichten vertreten waren. Die Stadt, die in warmen Tönen idealisiert war, zeigte sich dir in einem ganz anderen Licht. Vielleicht brauchtest du die Vermittlung eines Bildes, um einen Ort schätzen zu können. Du verbrachtest eine Stunde damit, die Szenen im Detail zu studieren, die Bauten zu betrachten und in diesen Film einzutauchen, der vor zweihundert Jahren erschaffen worden war und dessen Drehbuch du jetzt nach Belieben neu zusammenfügen konntest. Schritte in deinem Rücken holten dich aus deiner Betrachtung zurück. Ein gelangweilter Wächter beobachtete dich aus der Ferne. Innerhalb von einer Minute beendetest du deinen Besuch: Die Versenkung, in die das Panoramabild dich getaucht hatte, machte es unmöglich, auch noch die Portraits aus dem 18. Jahrhundert um dich herum aufmerksam zu betrachten, trotz ihrer Qualität. Nicht einmal das Portrait John Hunters, gemalt von Thomas Lawrence, konnte dich zum Stehenbleiben bewegen. Deine Schritte hallten in der weiten Galerie wider, in der sich kein anderer Besucher aufhielt. Du verließt das Museum unter einer weiteren Wolke weißen Staubs und bogst in die geradläufigen, bürgerlichen, eleganten Straßen eines Wohnviertels ein. Du schautest flüchtig nach oben und blicktest in Innenräume, die du nie wieder sehen würdest. Restaurants am Gehsteig nahmen auf ihren Terrassen Angestellte in Bürokleidung, Touristen und Rentner auf. Du hattest Hunger, aber du wolltest nicht allein in einem Restaurant essen. Du kauftest lieber ein Sandwich in einer Bäckerei, aßt es an einer Straßenecke vor einem Platz und schautest dabei dem Auf und Ab der Passanten zu. Ein junges Mädchen kam auf dich zu und bat dich um eine Zigarette. Du gabst ihr zwei; sie blickte dich überrascht an und bedankte sich überschwänglich. Auf deinem Stadtplan suchtest du die Adresse einer Fotogalerie, die Damien dir empfohlen hatte. Sie befand sich am anderen Ende der Stadt. Der Entfernung nach brauchtest du mindestens eine Stunde bis dorthin. Gelassen durchquertest du noch einmal die Altstadt. Die Tatsache, ein Ziel für deinen Streifzug zu haben, beruhigte dich. Du liefst an der Garonne entlang; der Uferdamm war eine Baustelle, eine Straßenbahnlinie wurde neu geführt. Straße und Gehsteig waren aufgerissen, du musstest Bauzäune umrunden, Sandhaufen überqueren und Löcher in der Straße umgehen. Die Fassaden der alten, verfallenen Lagerhäuser waren genau bis zu dem Abschnitt renoviert worden, bis wohin die Bauarbeiten fortgeschritten waren. Dieser in Verwandlung begriffene Teil der Stadt zog deine Aufmerksamkeit mehr an als der unverändert erstarrte von Altstadt und »guten« Vierteln. Hier stelltest du dir das Leben vor, das noch kommen würde. Die Stadt existierte hier weniger für sich selbst als für das, was sie demnächst erst sein würde. Die frühere Stadt, wie sie das Panorama im Kunstmuseum gezeigt hatte, und auch die zukünftige, die deine Vorstellung sich nach dem erschuf, was deine Augen ihr zu verarbeiten gaben, gefielen dir bei weitem besser als die gegenwärtige, die du soeben durchquert hattest. Die Fotogalerie befand sich in der Hafengegend, inmitten von Lagerhäusern, Containern und Umschlaganlagen. Du gingst

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