Selbstmord (German Edition)
Du verbrachtest Stunden damit, Töne hervorzubringen, die sich in der Einsamkeit deines Kellers verloren, und warst selbst dein einziges Publikum. Sie baute zusammen, du löstest dich auf. Der Abend zog sich in verschiedenen Bars der Innenstadt und in einem Club mit japanischem High-Tech-Dekor fort, wo du den Leuten beim Tanzen und Cocktailtrinken zuschautest. Am nächsten Morgen wachtest du im Zimmer des Zweisternehotels, das man dir reserviert hatte, auf. Die Tapete war gelb und die Auslegware königsblau, mit Motiven, die das Logo der Billighotelkette zitierten. Das Fenster ging auf einen schmalen, weiß getünchten Hof, in den die Sonne ein hartes Licht warf. Die Stille dieses anonymen Ortes weckte eine diffuse Angst in dir. Du kanntest nichts in dieser Stadt und hattest dich kaum über sie informiert. Du wolltest sie nach dem Zufallsprinzip erkunden und hier und da Unbekannte um Auskunft bitten, welche Orte einen Besuch lohnten. Beim Rasieren glaubtest du, im Spiegel einen Unbekannten zu sehen. Es war sehr wohl dein Gesicht, aber die Dekoration, die nicht zu dir passte, und die Absurdität der Situation ließen dich glauben, du seist jemand anderes. Du flößtest dir selbst Mitleid ein und es hätte dich zum Weinen gebracht, wenn nicht das Telefon geschrillt hätte. Wer konnte dich anrufen? Du hast den Hörer abgehoben, es war deine Frau, die Neuigkeiten von dir hören wollte. Ihre Stimme, die dir sonst Sicherheit gab, verstärkte auf die Entfernung dein Gefühl von Einsamkeit noch. Du erzähltest ihr, das Konzert sei gut gelaufen, und gabst vor, dich auf die bevorstehenden zwei Tage Erkundungstour zu freuen. Nachdem du aufgelegt hattest und dich daran machtest, das Hotel zu verlassen, schrillte das Telefon noch einmal. Es war Damien, er schlug dir vor, mit ihm zu einem Techno-Festival am Strand von Biscarrosse zu kommen. Du warst versucht, ihn zu begleiten und die Gelegenheit von Gesellschaft zu nützen, die er und die anderen Musiker in Aussicht stellten. Aber du hattest beschlossen, die Stadt zu besichtigen, und die Vorstellung, bei ohrenbetäubender Musik zwischen Hunderten von Unbekannten umherzulaufen, gefiel dir nicht. Damien war zwar enttäuscht, aber er empfahl dir einige Orte in der Stadt, die einen Besuch lohnten. Hättest du nicht gewusst, dass Zögerlichkeit dich schlimmer quälte als jede beliebige Wahl, hättest du beim Auflegen des Hörers deine Entscheidung bereut. Mit einem Stadtplan in der Hand bist du auf die Straße getreten. Du befandst dich im Zentrum der Altstadt. Du bist eine große Straße der Fußgängerzone entlanggegangen, die einige hundert Meter weit führte. Du betrachtetest die Modeboutiquen, die Konditoreien, die verschiedenen Läden, die sich aneinander reihten ... In dieser Einkaufsmeile waren keine Überraschungen zu erwarten. Du erreichtest einen kleinen Platz, der vom Postamt beherrscht wurde. Auf seinen Bänken waren ein paar Alte gestrandet, die Schiffbruch erlitten hatten. Ein etwa Fünfzigjähriger, an dessen Gürtel mehrere Plastiktüten aus dem Supermarkt mit der Gesamtheit seiner persönlichen Habseligkeiten befestigt waren, schlenderte umher und zog dabei abwechselnd beide Schultern im Rhythmus seiner Schritte nach oben. Mit dem Zeigefinger deutete er auf unsichtbare Gegenstände und murmelte Unverständliches. Außer dir gab es niemanden, der ihn beachtete. Du zogst daraus den Schluss, dass er hier im Viertel leben musste und dieser Platz sein Wohnzimmer war. Ein paar andere Obdachlose hingen herum, einige saßen am Boden, andere standen bewegungslos da und warteten auf irgendetwas. Sie waren einander gleichgültig, und auch die Passanten beachteten sie nicht. Sie waren unsichtbar geworden. Du nähertest dich dem Straßenschild, um zu wissen, wo du dich befandst. Auf dem Schild stand, wie zur Ironie, »Place Saint-Projet«. Du lenktest deine Schritte zur Kathedrale Saint-André. Die Größe dieses gotischen Bauwerks war beeindruckend, du betratst das Innere, doch die Dunkelheit und seine Kälte verstimmten dich augenblicklich. Außer ein paar ausländischen Touristen, die den Hinweisen eines Reiseführers folgten, gab es nur einige alte Frauen, die sitzend oder kniend beteten. Die Gemälde, auf die ein Plastikschild am Eingang verwies, waren ob des fehlenden Lichts kaum zu sehen. Du bist wieder hinausgegangen, und nachdem du das Rathaus passiert hattest, liefst du in Richtung Kunstmuseum. Bauarbeiter waren mit der Sanierung des Gebäudes beschäftigt und schliffen
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