Selbstmord (German Edition)
Autobahnraststätte glich. Die orangefarbene, grelle Beleuchtung verdarb dir den Gefallen, den du an einigen Villen aus dem letzten Jahrhundert hättest finden können; sie hatten wundersamerweise zwischen zwei Betonklötzen überlebt. Du erreichtest eine kleine Kirche am Rand eines Friedhofs. Die weißen Grabsteine, die hinter dem von einer großen Zypresse flankierten Eingangstor hervorschimmerten, erschienen dir wie eine Oase von stiller Schönheit. Es war dir nie in den Sinn gekommen, nachts allein auf einem Friedhof herumzulaufen. Eine unbewusste Angst vor Geistern hatte dich bisher zurückgehalten. Doch ein hervorstehender Mauerstein und ein Halt am oberen Teil des Gittertors stimmten dich um. Ohne zu überlegen, wie du wieder hinauskommen würdest, hast du dich daran gemacht, die Mauer zu erklimmen. Ein Auto kam näher, du sprangst noch einmal herunter und ließt es vorbeifahren. Danach kam ein Motorroller, dann noch ein Auto. Während du wartetest, gabst du vor, auf dem kleinen Schild die Öffnungszeiten des Friedhofs zu studieren. Es war zwei Uhr nachts. Du nahmst die Ersteigung wieder auf, und nach wenigen Handgriffen befandst du dich hinter der Mauer. Du hattest keine Ahnung, ob der Friedhof wie die benachbarten Baustellen bewacht war. Deine Schritte knirschten im Kies. Du hattest keine Angst vor Gespenstern. Seit einiger Zeit dachtest du so oft an den Tod, dass er dir vertraut geworden war. Es beruhigte dich, diese Gräber im Halbschatten zu sehen, als wärst du zu einem stillen Ball gekommen, den wohlwollende Freunde organisiert hatten. Du warst der einzige Fremde dort, der Lebende zwischen Grabfiguren und von diesen geliebt. Das Auftauchen eines Wächters oder eines Herumtreibers hätte dich mehr erschreckt als das eines Geistes. In dieser von der Dunkelheit gedämpften, steinernen Kulisse schwebte dein Bewusstsein wie zwischen Leben und Tod. Du fühltest dich dir selbst fremd, aber diesem von Verstorbenen bevölkerten Ort vertraut. Dieses Gefühl kanntest du kaum: selbst schon tot zu sein. Doch als du zu den Hügeln blicktest, die sich sanft unterhalb des Friedhofs aufspannten und wo Lichter in den Fenstern der Häuser flimmerten, bist du plötzlich in die Welt der Lebenden zurückgekehrt. Ein Überlebensinstinkt hat deine Schritte zum Ausgang gelenkt. Einige Vorsprünge in der Mauer ermöglichten dir, diese noch einmal zu erklimmen, um hinauszugelangen. Als du auf der Straßenseite hinuntersprangst, stießt du mit dem Fuß ans Friedhofstor, und es öffnete sich. Es war nicht verschlossen. Der Zugang war frei gewesen, du warst umsonst geklettert.
Sonne, Wärme und Licht, die deine Umgebung erfreuten, erschienen dir wie eine Aufforderung zum Hinausgehen, wie eine Störung deiner Einsamkeit, eine Nötigung zur Freude. Du wehrtest dich dagegen, dass Begeisterung wetterabhängig sein sollte. Du wolltest allein für sie verantwortlich sein. Wenn man dir unter Berufung auf das schöne Wetter eine Unternehmung vorschlug, lehntest du ab. Grauer Himmel, Winter, Regen oder Kälte waren dir willkommen. Die Natur schien sich nur mit deiner Stimmung in Einklang zu bringen. Schlechtes Wetter ersparte dir die Schuldgefühle, nicht aus dem Haus zu gehen. Du konntest drinnen bleiben, ohne dass deine Einkapselung auffällig wurde, und keiner sprach dich auf deine Stubenhockerei an.
Du sagtest, Vornehmheit sei das Gegenteil von Zurückhaltung und eine aufdringliche Form von Eleganz. Du wolltest zurückhaltend sein, und man nannte dich elegant. Du wolltest neutral erscheinen, doch deine Schönheit und deine Statur hoben dich aus der Menge heraus. Du versuchtest, schlechtgeschnittene Kleidung zu tragen, dich krumm zu halten, ungeschickte Bewegungen zu machen, um dich hinter einer weniger begehrenswerten Fassade selbst auszulöschen. Gleichzeitig befürchtetest du, dass diese Tricks dich erst recht auffällig und zu einem Dandy machten, der du nicht warst. So hast du dich schließlich mit deiner natürlichen Anmut abgefunden.
In Paris stiegst du einmal in ein U-Bahn-Abteil ein und nahmst auf einem Klappsitz Platz. Drei Stationen später setzte sich ein Obdachloser neben dich. Er roch nach Käse, Urin und Kot. Abgerissen wandte er sich zu dir um, schnüffelte ein paar Mal und sagte: »Mmh, hier riecht’s nach Nuttendiesel.« Du hattest am Morgen vorm Verlassen des Hauses Parfüm benutzt. Endlich einmal brachte dich ein Obdachloser zum Lachen. Normalerweise beunruhigten dich solche Leute eher. Du fühltest dich nicht
Weitere Kostenlose Bücher