Selbstmord (German Edition)
schwarzer Gesang« war unversehens in deinem Bewusstsein aufgetaucht. Wo hattest du ihn gehört? Nicht die geringste Erinnerung stieg in dir auf, und seine Herkunftlosigkeit betonte noch seinen gespenstischen Charakter.
Es gab einen Pariser Geschäftsmann, dessen Geschichte dich gefesselt hat. Sein zwanghaftes Hobby bestand darin, seine alltägliche Existenz zu dokumentieren. Er bewahrte Briefe auf und Einladungskarten, Zug-, Bus- und U-Bahn-Fahrkarten, Tickets von Flug- oder Schiffsreisen, seine Verträge, Hotelrechnungen, Speisekarten von Restaurants, Prospekte von Touristenattraktionen aus Ländern, die er bereist hatte, Theaterprogramme, Notizbücher, Tagebücher, Fotos ... Ein Zimmer seiner Wohnung, dessen Wände vollständig mit Ordnern zugestellt waren, diente als Sammelstelle seiner ständig wachsenden Archive. In der Mitte bezeichnete eine Orientierungstafel die Chronologie in spiralförmigem Verlauf und hob mit verschiedenen Farben Paris, Frankreich oder ein anderes Land, die Kontinente, Meere, Monate und Tage hervor. Mit einem Blick konnte er sein Dasein überschauen. Er hatte sich selbst gesammelt.
Wenn dir die Funktionsweise eines Gegenstands unbekannt war, du aber wusstest, dass du sie mit etwas Bemühung würdest verstehen können, hast du es dennoch manchmal vorgezogen, im Zustand der Spekulation und des Spektakels zu bleiben – wie beim Anblick einer schönen Landschaft: Es genügte dir, sie aus der Ferne zu betrachten, es war nicht nötig, darin herumzuspazieren. Eine Insel von einem Schiff aus zu entdecken konnte reizvoller sein, als den Fuß auf sie zu setzen.
Du hattest Pläne für die Gestaltung deines Grabs. Du wolltest die Verantwortung, deinen dauerhaftesten Aufenthaltsort zu bestimmen, nicht anderen überlassen. Die Grabplatte sollte aus glänzendem schwarzen Marmor sein, eben und ohne Ornamente. Davor sollte eine Stele deinen Namen, dein Geburtsdatum und dein Sterbedatum anzeigen: Im Alter von fünfundachtzig Jahren wolltest du gestorben sein. Es sollte kein Familiengrab sein. Du wolltest allein darin ruhen. Die Daten sollten noch zu deinen Lebzeiten eingraviert werden.
Du stelltest dir die Reaktionen der Friedhofsbesucher beim Anblick eines Todestages vor, der mehrere Jahrzehnte in der Zukunft lag. Verschiedene Szenarien waren denkbar.
Vor deinem Tod würde das in der Zukunft liegende Datum dein Grab entweder zu einer Farce oder zu einer beunruhigenden Prophezeiung machen. Wenn du vor dem vorausgesagten Tag sterben würdest, könnte man dich bestatten und das angegebene Datum mit dem deines wirklichen Todes ersetzen – was dein Grab durch die Berichtigung der Lüge banalisieren würde. Andererseits könnte man dich auch beisetzen, ohne die Inschrift zu ändern. Die Besucher würden an einen Scherz glauben und angesichts einer Grabstätte lachen, die aber doch einen Toten beherbergte. Die Stele würde diese Farce bis ins Jahr deines fünfundachtzigsten Geburtstages aufrechterhalten. Danach erhielte kein Spaziergänger mehr Kenntnis von deiner Exzentrik: Wer würde schon glauben, dass die Inschrift erlogen und der Mensch in diesem Grab nicht zum angegebenen Zeitpunkt gestorben war?
Oder aber du würdest genau im angegebenen Jahr mit fünfundachtzig sterben. Entweder eines natürlichen Todes, was besonders außergewöhnlich wäre, da sich dann mit deinem Tod deine Voraussage bewahrheiten würde, oder aber durch Selbstmord, um das in Marmor gravierte Versprechen zu erfüllen. In diesem Fall würde man dich begraben, ohne etwas an der Inschrift der Stele ändern zu müssen.
Wenn du hingegen die fünfundachtzig überleben würdest, hielten die Friedhofsgänger, die deine Daten läsen, dich für tot, obwohl du noch lebtest. Und schließlich käme der Tag deines wirklichen Todes. Wenn man nichts an der Inschrift änderte, würde man dich in einem Grab bestatten, dessen Inschrift dich verjüngte. Außer du würdest entscheiden, das Datum auf der Stele dem wirklichen Zeitpunkt deines Todes anzupassen. Oder du hättest posthume Anweisungen gegeben, das angegebene Sterbedatum immer wieder auf später zu verschieben, so dass dein Tod immer angekündigt bliebe, aber nie eingetreten wäre.
Dein Selbstmord hat diesen komplizierten Überlegungen ein Ende gesetzt. Doch deine Frau, die von deinen Plänen wusste, hat dein Grab nach den Zeichnungen anfertigen lassen, die du hinterlassen hattest. Sie hat auf die schwarze Stele deine Geburts- und Sterbedaten eingravieren lassen. Fünfundzwanzig Jahre
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